Der Ruf des Kolibris
guckte, hatte ich das Gefühl, zehn Minuten seien bestimmt vergangen. Vielleicht gehörte es zu dem seltsamen Humor dieser Dame, dass sie mich einfach vergaß. Ich öffnete die Tür zum Gang und spähte hinaus.
Ein paar Meter von mir entfernt, an den Türen zum Treppenhaus, standen zwei Männer und diskutierten leise, aber heftig miteinander. Der eine war offensichtlich ein Kellner in einem etwas zu großen schwarzen Anzug, der andere steckte in einem Smoking und kehrte mir den Rücken zu. Erst nach einem Moment wurde mir bewusst, was nicht stimmte. Sie waren beide Kolumbianer, was nicht weiter befremdlich war. Denn unter den Ballgästen waren etliche Kolumbianer, auch solche, die nicht europäisch aussahen, wie Leandro Perea, Elenas Vater mit seinem Viertel indianischem Blut in den Adern. Aber der Mann im Smoking hatte das pechschwarze Haar der Indígenas, der Ureinwohner. Es war kurz geschnitten, und zwar erst unlängst und von einem guten Friseur.
Das waren alles Dinge, die ich nebenbei registrierte, während ich nach der grauhaarigen Dame in dem grauen Zippelgewand Ausschau hielt und überlegte, ob ich mich vielleicht nicht doch selbst auf den Weg in die Küche machen sollte, wo auch immer sie war, und mir mit Salz oder Putzmitteln aushelfen ließ. Zwei Minuten noch, dachte ich und wollte die Tür gerade wieder schließen, als es an der Tür zum Treppenhaus eine Bewegung gab.
Ein Handgemenge war zwischen den beiden Kolumbianern entstanden. Der Indio im Smoking wich zurück, der Kellner sprang vor, packte ihn am Revers und rief: »Nehmt euch in Acht, dein Onkel und du! Ich brauche bloß zu sagen, was ich weiß!«
» Hijo de puta! «, knurrte der Indio und entzog sich dem Griff des Kellners mit einer kleinen, aber kraftvollen Bewegung. »Dann pass aber gut auf deine Mutter und deine Schwestern auf!« Und damit gab er dem Kellner einen Stoß in Richtung Treppe.
Mir lief es kalt den Rücken runter. Das Schlimme war, so was passierte, im Zuge solcher Streitereien wurden ganze Familien ausgelöscht, Kinder, Frauen, Alte. Ein Menschenleben galt nicht viel, es sei denn, es gehörte den eigenen Familienangehörigen, dann löste ihr Tod eine fürchterliche Rache aus und ein weiteres Töten.
Der Kellner stieß einen Fluch aus, den ich zum Glück nicht verstehen konnte, denn mit Sicherheit hatte er uns allen Pest und Wahnsinn an den Hals gewünscht, und verschwand durch die Tür ins Treppenhaus.
Der Indio fuhr sich mit den Händen glättend und ordnend über den feinen Stoff seines edlen Anzugs und blickte sich um.
Ich erstarrte in meiner Tür. Auch er erstarrte.
Es war Damián Dagua.
»Hallo!«, stotterte ich. Und ich war stolz darauf, dass ich überhaupt einen Ton herausbrachte.
»Guten Abend«, erwiderte er auf Englisch.
Ich antwortete auf Spanisch: »Guten Abend. Was ... äh ... hat er denn ...?«
Mir schien, dass er um einen Hauch blasser wurde, als er erkannte, dass ich den Wortwechsel mit dem Kellner verstanden hatte.
Der schimmernde Anzug stand Damián übrigens irrsinnig gut. Ich meine, ich hätte erwartet, dass ein Indio in einem europäischen Smoking irgendwie blöd aussah, weil Gesicht und Kleidung nicht zusammenpassten. Aber das war nicht der Fall. Im Gegenteil. Damiáns Erscheinung kam mir natürlicher vor als die von John Green oder dem britischen Botschafter mit ihrem europäischen Gebaren, das so gar nicht nach Südamerika gehörte. Sie waren die Fremdkörper in dieser Stadt, während Damián mit seinen breiten Wangenknochen, den funkelnden Kohleaugen, den scharfen Bögen seiner Brauen und dem schön geschnittenen Mund mit den vollen Lippen hierher gehörte. Es war sein Land. Wir waren die Eindringlinge, wenn auch seit Hunderten von Jahren. Eines Tages würden er und seine Leute uns vermutlich vertreiben. Ja, er wirkte wie der Prinz eines Volks, das im Verborgenen lebte. Die Aura einer unbekannten urtümlichen Magie, einer Macht von Göttern verliehen, die ich nicht kannte, umgab ihn.
»Der Kellner ...«, antwortete Damián mir auf meine gestammelte Frage. Er sprach auch nicht viel flüssiger: »Er ist ein Dieb!«
»Ein Dieb?«, sagte ich mit bemüht ironischem Unterton.
Wäre ich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte gewesen und hätte ich nicht immer an den Fleck denken müssen, der mein Kleid verunstaltete – ein Kleid, das ich eigentlich für ihn, den geheimnisvollen Indianer, oder vielmehr in Gedanken an ihn, Damián, ausgesucht hatte, ohne realistische Hoffnung, dass er mich
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