Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
Vom Netzwerk:
Rotwein ergoss sich über mein Kleid.
    Wieso musste immer mir so etwas passieren?
    Alle Blicke richteten sich auf den Tumult, also auf uns, auf mich. Meine Mutter sagte: »Das schöne Kleid!« Die aufgeschossene Tochter des Bankers entschuldigte sich und verteidigte sich lautstark, sie habe hinten keine Augen, wieso müsse die blöde Kellnerin auch so dicht hinter ihr vorbeigehen. Die Kellnerin weinte fast und begann an meinem Kleid herumzuwischen. Elena schlug ihr die Hand weg. »Das muss man mit warmem Wasser rausmachen«, sagte Elenas Mutter. Ein Chefkellner eilte herbei und keifte die Kellnerin zusammen. Es war alles total peinlich. Das Kleid klebte mir nass am Schenkel. John guckte etwas verlegen. Und wieder einmal machte ich mich auf die Suche nach den Waschräumen. Mitleidige Blicke folgten mir. Alle anwesenden Frauen waren heilfroh, dass das ihnen und ihrem teuren Kleid nicht passiert war. Wieder einmal würde ich mit einem Fleck herumsitzen, wieder einmal würde ich nicht tanzen können, weil dann alle mein Missgeschick sehen konnten.
    Elena wollte mich begleiten, aber ich lehnte ab, weil ich sah, dass es ihrer Mutter nicht recht war. Denn es war Zeit, sich an die Tische zu begeben oder vielmehr sich von den Bediensteten zu den Tischen führen zu lassen, an denen immer jeweils zehn Personen Platz hatten. Gegen den langsamen Strom all derer, die sich in den Saal bewegten, schlängelte ich mich hinaus. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die kleine Kellnerin von ihrem Chef aus dem Saal geschickt wurde.
    Ich suchte nach dem Schild zu den Toiletten. Sie befanden sich in einem mit spiegelndem Marmor ausgelegten Gang. Auch die Waschräume spiegelten, der Boden glänzte, die Waschbecken waren blitzblank. Ein großer Spiegel an der Wand offenbarte mir mein ganzes Elend. Der Fleck auf meinem Schenkel war groß und dunkelrot.
    »Oje!«, bemerkte eine ältere Dame, als ich ein Papiertuch aus dem Spender zog und den Wasserhahn anstellte.
    Sie war knochig, steckte in einem zippeligen Gewand aus grauem Stoff und hatte kurz geschorene graue Haare, ein verschmitztes Lächeln in den Augen, knallrote Lippen und knallrote Ohrklips aus Plastik.
    Das Papier klumpte sofort unter dem Wasserhahn und schon beim ersten Strich über den Stoff hinterließ es Knötchen.
    »Stopp!«, rief die Frau. »Das ist Wein. Da muss Salz drauf.«
    »Guter Tipp, aber wo bekomme ich jetzt Salz her?«
    »Aus der Küche, mein Kind. Soll ich dich hinbringen? Oder schaffst du das alleine?«
    Ihre Augen blitzten spöttisch.
    »Ja, lachen Sie nur!«, entfuhr es mir ungewollt heftig. »Meine kleinen Missgeschicke sind ja so lustig. Und es ist auch voll komisch, dass es mir peinlich ist, in irgendeiner dampfigen Küche nach Salz zu fragen, und alle starren mich an und lächeln amüsiert, während ich mir Salz aufs Kleid schütte. Wirklich irre komisch!«
    Die Dame wurde ernst. »Ein Fleck auf dem Kleid ist doch kein Beinbruch! Denk nur, falls eine Kellnerin daran schuld ist, verliert sie ihren Job.«
    »Das ist mir jetzt gerade scheißegal!«, schrie ich. »Ich bin nicht verantwortlich dafür, dass es in diesem Scheißland so scheißungerecht zugeht.«
    »O Gott! Kindchen!«, sagte die Dame. »Du bist ja ganz durch den Wind! Reg dich nicht auf. Das kriegen wir wieder hin. Vertrau einer alten Ballveteranin. Setz dich da hin, lass das Wasser in Ruhe, ich bin gleich wieder da.«
    Sie nahm ihre Handtasche und verschwand. Von den Toiletten kam noch eine Frau, wusch sich die Hände, puderte sich und ging. Dann war ich allein. Ich zupfte mir den feuchten Stoff vom Schenkel, wagte aber nicht, irgendwas an dem Fleck zu machen. Das »Bin gleich wieder da« zog sich hin. Vermutlich würden Elena oder meine Mutter mich bald suchen kommen. Noch peinlicher!
    Am liebsten hätte ich mich zum Fahrstuhl geschlichen und wäre nach Hause gefahren. Der Ball war mir vergällt. Ich hatte ohnehin keine Lust gehabt. Dann hatte es besser angefangen, als ich befürchtet hatte. Ich hatte sofort jemanden kennengelernt, ich war nicht links liegen geblieben wie so oft, wenn ich mit Vanessa irgendwohin gegangen war und sie sofort alle Blicke auf sich gezogen hatte. Doch wie immer, wenn ich gerade anfing, mich ein bisschen wie Vanessa zu fühlen, als Prinzessin, als junge Frau von Interesse, als Dame von Welt, dann passierte etwas, was alles zunichtemachte. Dann hatte ich eine Laufmasche, der Absatz brach mir ab oder eine Taube schiss mir auf den Kopf.
    Als ich auf meine, eigentlich Simons Uhr

Weitere Kostenlose Bücher