Der Ruf des Kolibris
der Mitte des Raums befand sich ein Tisch mit einem Stuhl und zwei Schemeln.
Juanita lud mich ein, Platz zu nehmen, und stellte mir einen Tinto hin, den kleinen pechschwarzen kolumbianischen Kaffee.
»Du fragst dich, wo der Affe ist?«, bemerkte sie.
»Ja.«
»Er hat dir eine Uhr geklaut. Das hat mir Damián erzählt.«
»Damián hat sie mir sofort zurückgegeben.«
»Ja, ich weiß. Es war ihm sehr peinlich. Der Affe hat einmal einem Dieb gehört. Es war nicht immer leicht, all die Gegenstände zurückzugeben, die er geklaut hat.« Sie lachte vergnügt. »Seit Damián mit seinem Moped fährt, kann er ihm nicht mehr so leicht folgen. Aber an dem Sonntag musste Damián zu Fuß gehen, weil das Moped kaputt war, und da ist der Affe ihm wieder einmal gefolgt. Damián hat ziemlich mit mir geschimpft!« Juanita lachte wieder, und wenn sie lachte, bebte ihr ganzer Körper. Es war ein überaus ansteckendes Lachen. »Aber einen Affen kann man nicht einsperren. Vor ein paar Tagen habe ich ihm nun das Halsband abgenommen. Denn er ist erwachsen geworden und hat sich verliebt. Er will eine Familie gründen, da draußen im Wald. Jetzt ist er fort. Liebende kann man nicht halten, Jasmin.«
Wem sagte sie das? Ich wusste, dass mich derzeit nichts und niemand aufhalten können würde.
»Die Liebe ist mächtiger als der Tod«, sagte Juanita. »Die Liebe hat sieben Leben. Weißt du das?«
Ich schüttelte den Kopf. »Was bedeutet das?«
»Die Liebe ist Schrecken, dann folgt die Blindheit. Sie ist Wandlung und Erfüllung, dann folgen Zerstörung und Opfer und schließlich die Erlösung. Das sind die sieben Leben der Liebe. Manche erleben nur einige, manche erleben nur die glücklichen, manche die unglücklichen, manche erleben aber auch alle.«
»Dann möchte ich lieber nicht lieben«, sagte ich leichthin und griff nach dem Tässchen Tinto. Es kostete mich alle Kraft, beim Konversationston zu bleiben, während mir das Grauen eiskalt durch die Glieder sickerte. Das Tässchen zitterte in meiner Hand.
Auf jeden Fall befand ich mich im ersten der sieben Leben, im Schrecken! Ja, wirklich! Da hatte Juanita recht. Meine Eltern waren total panisch und mir pochte ständig das Herz vor Angst, vor Sorge. Ich hatte meine Mutter belogen, ich saß in dieser feuchtkalten Hütte und lauschte einer indianischen Wunderheilerin, die sich alle Mühe gab, mich in eine fremde, magische Welt einzuspinnen, und das alles tat ich nur, weil ich herausbekommen musste, wo Damián steckte und was genau er mir hatte sagen wollen, um jeden Preis und mit allen Mitteln! War ich damit womöglich auch schon im Stadium der Blindheit angekommen?
»Ich wollte dich nicht erschrecken!«, sagte Juanita. Ihr scharfer Blick ruhte auf mir. »Damián schimpft mich aus, wenn ich mit meinem indianischen Zauberzeugs komme, wie er das nennt. Er möchte nicht, dass man seine Mama Lula für eine wirre alte Hexe hält.«
»Woher wussten Sie, wie ich heiße, als ich Sonntag vor einer Woche schon mal hier war?«, fragte ich. »Und erzählen Sie mir bitte nichts von Kobolden und Göttern!«
Die Alte kicherte freundlich, doch ihr Blick blieb forschend. »Das ist dir unheimlich, mein Kind. Ich verstehe. Du brauchst eine rationale Erklärung. Nun, Damián hat es mir gesagt, als er den Affen brachte, damit ich ihn an die Kette lege und er ihm nicht mehr folgt.«
»Und woher wusste er, wie ich heiße?«
»Das weiß ich nicht, Jasmin. Ich habe ihn nicht danach gefragt. Aber er arbeitet doch in der Anlage, wo du wohnst. Wie sollte er nicht wissen, wie du heißt?«
Die Erklärung war einfach und gut. Damián hatte tausend Gelegenheiten gehabt, zu erfahren, wie ich hieß, etwa wenn Mama mich rief oder wenn Elena unten am Türschild klingelte. Er konnte mich auch im Colegio gesehen und sich nach meinem Namen erkundigt haben.
Doch eigentlich spielte es jetzt schon keine Rolle mehr. Damián hatte Bogotá verlassen. Womöglich würde ich ihn nie wiedersehen. Vielleicht war er abgehauen, ehe er in der Schule Schwierigkeiten bekam, vielleicht hatte man ihm gekündigt, und er hatte es seiner Großmutter verschwiegen und behauptet, er wolle nach seiner kranken Schwester Clara schauen. Vielleicht machte er auch mich dafür verantwortlich, dass er den Praktikumsplatz im Colegio verloren hatte, womöglich war er sauer auf mich und deshalb gegangen, ohne sich noch einmal mit mir in Verbindung zu setzen. Zorn stieg in mir auf. So viel waren also seine Versprechen wert! Und offenbar resignierte er
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