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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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– 10 –
     
    B litze zuckten über dem Süden der Stadt, der Donner hallte in den Bergen wider, die den Nordosten umgaben. Aber es schien die Sonne, als ich am Wald entlang bis zum blauen Tor mit den bemalten Pfosten eilte. Der schlammige Weg, der sich schmal den Hang hinaufschlängelte, lag verlassen. Das Tor ließ sich leicht öffnen.
    Ganz wohl war mir nicht, als ich zwischen den Pfosten mit den geometrischen Fratzen hindurchtrat in eine andere Welt. Was würde hinter der letzten Biegung auf mich warten? Würde ich Damián sehen? Wie würde er reagieren? Verärgert oder erfreut? Vielleicht verletzte ich die Regeln des Anstands oder brach ein Tabu, wenn ich ihm als Mädchen hinterherlief. Angst flatterte mir durch den Magen. Am liebsten wäre ich umgekehrt, aber wer weiß, wann ich wieder die Gelegenheit haben würde, mich für zwei Stunden davonzustehlen aus dem Stundenplan und meinem Familienleben.
    Nach ein paar Metern nahm mich der Wald vollständig in sich auf. Die Geräusche des Autoverkehrs verebbten. Vögel zwitscherten und pfiffen. Ich balancierte auf den Latten, die über die schlimmsten Schlammlöcher gelegt waren. Ich hörte meinen Atem. Das Herz schlug mir im Hals. Ich befand mich mitten im dunklen grünen Urwald.
    Die Hütte, die man von unten nur erahnte, kam in mein Blickfeld. Sie war blau gestrichen, das Dach bestand aus graubraunem Laub, vermutlich von Bananenstauden, die meterdick gelegt waren. Überall standen Holzpfosten, die mit dreieckigen oder quadratischen Fratzen bemalt waren. Um manche schlangen sich Grünpflanzen, manche hatten sich geneigt. Eine unheimliche Magie ging von ihnen aus. Als ob sie das Haus bewachten, als ob sie jeden mit einem Fluch belegten, der sich weiterwagte.
    Ich schüttelte mich unwillkürlich und dachte an Felicity Melroy, die sich auf dem Ball um mich gekümmert hatte. Nach ihrer Ansicht wirkte die Magie auf uns Europäer deshalb so stark, weil wir sie nicht gewohnt waren. Wir lebten ohne Zaubereien, wir fühlten uns normalerweise vor ihnen sicher. Aber hier im Wald am Rand von Bogotá in Kolumbien fühlte ich mich ganz und gar nicht mehr sicher. Vanessa hätte mich ausgelacht, hätte ich ihr davon erzählt. Es gibt keine Hexen. Niemand kann irgendjemanden verzaubern. Das sind Märchen. Mit Simon hatte ich mich einmal über unerklärliche Dinge unterhalten. Er war überzeugt, dass es mehr gab, als man mit wissenschaftlicher Logik erklären konnte. Ich hatte ihm beigepflichtet und gelacht. Das meiste von dem, was passierte, konnte ich sowieso nicht wissenschaftlich erklären, denn dazu fehlten mir die Kenntnisse in Physik oder Chemie oder welche man gerade brauchte. Und was heute unklar war, dafür würde die Menschheit in zwanzig Jahren eine wissenschaftliche Erklärung finden. Vielleicht gab es Vorahnungen und manche Menschen hatten ein besonderes Gespür für die Gedanken anderer, aber Zauberei mit Hokuspokus, das gab es nicht wirklich. Davon war ich überzeugt gewesen.
    Jetzt war ich es nicht mehr.
    Ich hatte mich der Hütte bis auf etwa zehn Meter genähert und blieb stehen, um zu Atem zu kommen. Immer noch geriet ich schnell außer Atem in der dünnen Luft von Bogotá. Die Haustür war geschlossen, die welligen Fensterscheiben in den winzigen Fenstern spiegelten die Düsternis des dichten Waldes. Es gab einen Brunnen, über dessen Rand Lappen hingen. Eimer und Besen standen säuberlich an der Hausecke. Ich hörte eine Ziege meckern. Hühner scharrten in der Erde. Es machte vermutlich viel Arbeit, die Fläche um das Haus herum immer von Unkraut frei zu halten.
    Ich überlegte, ob ich rufen sollte.
    Aber ich erinnerte mich daran, dass meine Tante Valentina, die zusammen mit meiner Mutter in einem kleinen Dorf am Bodensee aufgewachsen war, mir einmal erklärt hatte, dass nur Städter, wenn sie auf einen Bauernhof kamen, sofort an der Haustür klingelten oder »Hallo!« riefen. Echte Dörfler warteten höflich ab, bis der Bauer sie bemerkte und Zeit fand, herbeizukommen und zu fragen, was man wollte. Also beschloss ich, noch ein bisschen näher zu gehen und zu warten.
    Als ich den Brunnen erreicht hatte, begann im Haus der kleine Hund zu kläffen. Spätestens jetzt musste die Alte mich bemerken. Ich schaute auf Simons Uhr. Ich hatte noch anderthalb Stunden. Ungeduld flackerte in mir hoch, aber ich schlug sie nieder. Der Kläffer im Haus verschluckte sich vor Zorn. Die Ziege hinterm Haus meckerte lauthals. Vögel kreischten und flatterten in den

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