Der Ruf des Kolibris
schöpfen?«
»Man weiß nie. Sie haben mir verboten ...« Jetzt war es halb raus, also musste ich den Rest auch noch sagen. »Sie haben mir schon mal vorsorglich verboten, mich ohne ihr Wissen mit Damián zu treffen. Total blödsinnig, aber so sind sie eben.«
Elena feixte.
»Deshalb machen wir Folgendes: Ich mache mit meinem Handy eine Schaltkonferenz. Zuerst rufe ich dich an, und du sagst dann aber kein Wort, du sorgst nur dafür, dass man die Hintergrundgeräusche vom Stall hört, die Boxentüren, Pferdehufe und so. Ich rufe währenddessen meine Mutter an. Dann hört sie die Stallgeräusche und meine Stimme und denkt, auch ich sei im Stall.«
»Hm. Meinst du, das funktioniert?«
»Wäre doch eine interessante Frage, oder nicht?«
Wir probierten es gleich aus. Ich wählte Elenas Handy an, tippte auf Zweitanruf und rief Marco an, einen Jungen aus unserer Klasse. Er bestätigte, dass er Elena und mich hören konnte. Es ging also im Prinzip. Wenn wir bei mir zu Hause dann auf dem Festnetz anriefen, würde meine Mutter auch nicht an den Nummern sehen können, dass es zwei Handys waren, falls man das sah.
Auch das zweite Problem konnte ich mithilfe von Elena lösen. Ich brauchte Geld, das nicht nur für den Bus des TransMilenio reichte, sondern zur Not auch für ein Taxi. Ich hatte Geld für die Getränkeautomaten und die Cafeteria dabei. Es gab keinen Grund, meinen Eltern gegenüber zu behaupten, ich brauchte mehr.
Dienstags hatten wir schon um halb vier Schulschluss. Ich rief meine Mutter im Labor an und fragte verabredungsgemäß um Erlaubnis, ob ich wie üblich mit Elena in den Reitstall gehen durfte. Ich durfte. »Aber um sechs bist du daheim!«
In diesen Breiten ging die Sonne schließlich unerbittlich um sechs Uhr abends unter. Nach Einbruch der Dunkelheit war kein Mädchen mehr allein unterwegs. Das fand zumindest meine Mutter und war sich da einig mit Elena.
»Soll ich dich vom Stall aus noch mal anrufen?«, erkundigte ich mich bei meiner Mutter. Dabei bemühte ich mich, dass es weder ironisch noch bockig klang, sondern nett, kindlich und unbefangen.
»Warum?«, fragte sie verwundert.
»Na ja«, antwortete ich. »Ich dachte nur, du wolltest doch immer genau wissen, wo ich bin, und ...«
Es war ihr jetzt selbst ein bisschen peinlich, glaube ich. »Nein, ich vertraue dir.«
In meinem Magen gab es einen kleinen Stich. Da hatte ich mir nun ausgedacht, wie Elena und ich meine Mutter täuschen konnten, und wenn wir es gemusst hätten, hätte es mir weniger ausgemacht, sie zu hintergehen und zu betrügen, als jetzt, wo sie mir sagte, dass sie mir vertraute. Ich hasste die Dramatik, die das alles bekommen hatte. Warum reagierten Eltern oft so panisch, sobald ein Junge am Horizont auftauchte?
Na gut, ich hatte gesagt, ich wolle Damián heiraten. Aber meine Eltern waren dreißig Jahre älter als ich. Sie mussten wissen, dass ein Mädchen den ersten Jungen, in den es sich verliebte, meistens nicht heiratete. Genauso hatte es mein Vater mir doch erklärt. »Das geht vorbei.« Warum regten sie sich also so auf? Ich dagegen war sechzehn, ich machte meine ersten Erfahrungen, ich durfte radikal sein! Aber sie nicht. Wozu waren sie Erwachsene? Wozu hatten sie Lebenserfahrung? Sie waren doch sonst auch immer ganz abgeklärt. »Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird«, pflegte Papa zu sagen, wenn ich wieder mal beschlossen hatte, die Schule zu wechseln, weil ein Lehrer mich ungerecht behandelt oder Vanessas Clique mich geschnitten hatte. »Morgen sieht die Welt ganz anders aus.« Und so weiter. Da sollten er und Mama sich jetzt mal dran halten, dachte ich. Ich war ja kein kleines Kind mehr, auf das man ständig aufpassen musste, ich wusste durchaus, was ich tat und wann es gefährlich wurde. Und wenn ich jetzt nicht Damián suchen ging, dann würde ich es für den Rest meines Lebens bereuen. Das war klar. Und wenn meine Eltern das nicht verstehen konnten, dann musste ich sie eben austricksen, so leid es mir tat.
Der Reitstall lag an der großen Ausfallstraße gen Norden, der Autopista a Tunja, an der auch das Colegio lag. Mit dem Bus war es eine Haltestelle. Elena stieg aus, ich fuhr weiter bis zur Bushaltestelle Pepe Sierra, an der ich immer ausstieg, wenn ich nach Hause musste, nur dass ich diesmal an San Patricio vorbei die ganze lange Avenida Pepe Sierra entlang bis hinüber nach Santa Ana laufen musste, wo in der Calle 110 die geheimnisvolle Medizinfrau mit dem Äffchen im Waldhaus
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