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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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wohl für Krankheiten hatten, vermutlich Verletzungen, Entzündungen, Hautkrankheiten, Nierenprobleme und Durchfall.
    Zwei Tage, bevor es losgehen sollte, eröffnete uns Mama, dass sie nicht mitkommen werde. Sie hatte sich immer noch nicht wirklich an die dünne Luft gewöhnt und befürchtete, dass sie einen Migräneanfall bekommen werde. Damit wäre sie für drei Tage lahmgelegt.
    »Dann fahren wir auch nicht«, beschloss mein Vater sofort. »Dann bleiben wir alle hier.«
    »Aber dir ist das doch so wichtig!«, antwortete meine Mutter.
    Mein Vater und ich wechselten einen kurzen Blick. Wir beide wussten, dass meine Mutter mehr Angst hatte, als sie zugeben wollte. Sie befürchtete immer das Schlimmste, während mein Vater eher der Typ war, der sagte: »Es wird schon gut gehen.« Er war hierhergekommen, um genau das zu tun, wozu er jetzt durch Elenas Vater die Chance bekam: helfen, wo Hilfe selten hinkam und dringend nötig war. Im Grunde hatte meine Mutter unserem Jahr mehr aus Liebe zu meinem Vater als aus Interesse zugestimmt. Seit wir hier waren, ging es ihr nicht gut. Der Job im Labor gefiel ihr nicht besonders. Sie kam sich überflüssig vor, denn die technische Ausstattung entsprach kaum dem Standard, den sie gewöhnt war, und ihr Spezialwissen war nicht gefragt. Eine Zentrifuge könne jeder anstellen, sagte sie.
    Vielleicht hätte ich es ihr und meinem Vater leichter gemacht, wenn ich jetzt gesagt hätte: »Papa, fahr du mal. Ich werde hierbleiben, bei Mama.« Dann hätte Papa sein Abenteuer gehabt und Mama hätte sich nur um ihn und nicht auch noch um mich Sorgen machen müssen.
    Aber ich brachte es einfach nicht fertig, das zu sagen. Es ging nicht. Der Gedanke, zwei Monate lang in dieser Wohnung in der abgeschotteten Siedlung zu hocken und nichts Besonderes zu tun zu haben, war der pure Horror. Fast alle Schulkameraden, mit denen ich mich hätte treffen können, wenn ich gewollt hätte, waren weg, machten Urlaub in der Karibik oder an der Pazifikküste.
    Und was den Horror nicht gerade milderte, war John Greens Angebot, mir die Museen und kulturellen Einrichtungen der Stadt zu zeigen. Er hatte uns seit dem Ball einige Male besucht, artig mit Krawatte auf dem Sofa im Salon gesessen und mit meinen Eltern Konversation gemacht. In seinem Kopf spukten offenbar solche Ideen herum, dass man einer Tochter den Hof machte, indem man sich gepflegt mit den Eltern unterhielt, während meine Eltern amüsiert und leicht ungeduldig darauf warteten, dass er sich endlich mit mir zurückzog, woran ich wiederum kein gesteigertes Interesse hatte. Ich wusste nicht wirklich, was ich mit ihm reden sollte, und die Idee, mir das von den spanischen Eroberern zusammengeklaute Gold von Bogotá anzuschauen und Johns kunsthistorische Erklärungen anzuhören, war eher ein Grund, fluchtartig die Stadt zu verlassen. Unsere Reise in die Berge des Cauca fand er natürlich gefährlich und bedenklich. Das Einzige, was ihn einigermaßen beruhigte, war die Tatsache, dass wir nicht mit Autos fahren, sondern mit dem Hubschrauber fliegen würden.

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– 12 –
     
    W ir brachen an einem Freitagmorgen bei schönstem Wetter auf. An Bord des Hubschraubers befanden sich Leandro Perea, der eine taschenreiche Anglerweste und wetterfeste Lederstiefel trug, seine Tochter Elena, mein Vater mit zwei Koffern medizinischer Ausrüstung, ich und vier Sicherheitsleute mit Sonnenbrillen, Pistolen, drei Pumpguns und einem Maschinengewehr. Sie trugen Militärgürtel und gelbe Schleifen, um damit der zehn Polizisten zu gedenken, die vor einigen Wochen von Guerilleros erschossen worden waren. Die Schleife symbolisierte den Engel, der sie und uns beschützen würde.
    In Kolumbien schossen verschiedene Militärs aufeinander und auf die Bevölkerung. Es gab die offiziellen kolumbianischen Streitkräfte und die Militärpolizei, neben ihnen agierten die Paramilitärs, die von der Bevölkerung bitter »die Paras« genannt wurden. Wer ihr Befehlshaber war, war meist nicht klar. Ihnen gegenüber standen die Revolutionsarmee der FARC und ihre Untergruppen. Und außerdem gab es schwadronierende Guerilleros, also Krieger, die einfach nur Beute machten.
    Nach einer halben Stunde Flug mussten wir in Campoalegre landen, einem Nest, das an einem großen See lag. Das Wetter war plötzlich umgeschlagen. Die Gipfel der Anden lagen in finsteren Wolken, Nebel waberte die Hänge herab, Regen fiel senkrecht auf die Hütten und Betonhäuser der Stadt und auf die Felder. Leandro fluchte. Die

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