Der Ruf des Kolibris
lieber als zu kämpfen. Und wenn das so war, war es am Ende wirklich besser, wenn wir uns nie wiedersahen. Auch wenn es im Moment wehtat, fürchterlich weh.
»Weißt du«, hörte ich Juanita erzählen, »wir kommen aus einem kleinen Dorf tief in den Bergen bei San Andrés de Pisimbalá. Ihr nennt die Gegend Tierradentro, wir nennen sie Uyu. Das liegt in der Provinz Cauca. Mein Vater war ein Thé Wala , ein Medizinmann. Ich war sein einziges Kind und neugierig wie ein Äffchen. Er hat mir alles beigebracht, was er wusste. Ich heiratete und bekam einen Sohn, Gustavo, und zwei Töchter, Maria und Pepa. Dann starb mein Mann an einem Schlangenbiss. Gustavo ging schon bald nach Popayán, Maria heiratete und verließ ebenfalls unser Dorf. Pepa blieb und gebar zwei Kinder, Clara und Damián. Eines Tages kamen Männer mit Waffen, die Paramilitärs, erschossen die Alten, vergewaltigten die Frauen, verschleppten die Mädchen, raubten uns das Wenige, was wir besaßen, und brannten die Hütten ab. Sie töteten meine Eltern und meine Tochter Pepa. Damián war damals drei, seine Schwester Clara war fünf Jahre alt. Ich habe die beiden mit mir genommen zu meiner Tochter Maria, die mit ihrem Mann Tano in den Bergen lebt. Dort sind Clara und Damián aufgewachsen. Vor drei Jahren habe ich den Ort verlassen. Zuerst bin ich zu Gustavo nach Popayán gegangen und habe Kräuter und Tees verkauft. Dann bin ich weitergezogen. In den Städten gibt es viele Verlorene, die nicht wissen, wie sie sich selbst helfen können. Seit einem Jahr lebe ich jetzt hier. Als Damián das Stipendium fürs Colegio Bogotano bekam, ist er zu mir gezogen.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Sie erzählte es ohne Bitterkeit, ohne Aufregung, so als sei es etwas, was tagtäglich passierte und keiner besonderen Erwähnung mehr wert war. Wahrscheinlich erzählte Mama Lula Juanita es mir auch nur, damit ich verstand, dass meine Welt und ihre, also die von Damián, nicht zusammenpassten. Ich würde nie wirklich ermessen können, was in einem Mann vorging, dessen Eltern ermordet worden waren und der auf den bloßen Verdacht hin, er sei ein Dieb, entlassen wurde, nur weil er ein Indígena war. Und wenn ich es zu ermessen versuchte, dann packte mich ohnmächtige Wut.
»Und wo ist Damián jetzt genau?«, fragte ich.
»In Popayán, denke ich.«
Also in der Hauptstadt der Provinz Cauca.
»Dort findet bald ein Treffen des Regionalrats der Indígenas statt«, fuhr die Alte fort. »Außerdem wird er bei seiner Schwester in den Bergen sein.«
»Er möchte eine Universität gründen, nicht wahr?«
Juanita musterte mich nachdenklich. »Hat er dir das erzählt? Vielleicht wird er es schaffen. Ich traue es ihm durchaus zu. Gut reden kann er ja. Vielleicht wird er sogar eines Tages Präsident von Kolumbien sein.«
»Wenn das so ist ...« In mir stürzte etwas zusammen. Plötzlich erkannte ich die Wahrheit: Eine kleine deutsche Schülerin hatte keinen Platz in Damiáns Leben. Er musste für sein Volk kämpfen, gegen Armut und für mehr Gerechtigkeit.
Ich trank meinen Kaffee aus, dankte Juanita, erklärte, dass ich jetzt gehen müsse, und stand auf.
»Ich werde Damián sagen, dass du nach ihm gefragt hast«, sagte sie. »Das wird ihn freuen. Es ist eine noble Geste.«
Mit einem Schlag begriff ich: Sie wusste alles. Sie wusste, mit welchen Gedanken ich hierhergekommen war. Mein Kopf, meine Sinne waren bis zum Rand angefüllt mit Liebe, Romantik und Küssen. Doch in Damiáns Kopf war dafür nur ein kleiner Platz vorgesehen. Sein Kopf war voller großer Pläne, voller Elend, voller Kampf, voller Politik.
»Nein«, erwiderte ich. »Es war nicht als noble Geste gemeint. Ganz und gar nicht. Ich wollte ihn sehen. Ich wollte wissen, was er mir nach unserem Kuss auf dem Ball hat sagen wollen, aber nicht gesagt hat. Jetzt weiß ich es. Er kann sich nicht mit mir abgeben. Er hat andere, wichtigere Ziele. Sie können ihm sagen, das habe ich jetzt verstanden. Ich werde ihn nicht weiter belästigen.«
»Nein, warte, Jasmin!«, rief Juanita. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie die Hand nach mir ausstreckte, als wollte sie mich aufhalten, aber da war ich schon hinausgelaufen.
Zum ersten Mal war ich dem verdammten Regen von Bogotá dankbar für den Schleier, den er ausbreitete. Er mischte sich auf meinem Gesicht mit meinen Tränen. Ich musste mir keine Gedanken machen, was die Leute dachten, als ich wieder unten war und halb blind den Fußweg entlangstolperte.
de
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