Der Ruf des Kolibris
Bäumen. Es war, als fahre ein kalter Wind durch den Wald. Die Sonne verschwand.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich hier nichts zu suchen hatte. Es war nicht meine Welt. Zum ersten Mal nagten in mir schäbige Zweifel, ob ich wirklich so überzeugt war, dass ich mit Damián überall würde leben wollen. So eine Hütte war nett anzusehen, malerisch und all das, aber wollte ich in dieser schlammigen Welt leben, ohne Wasser im Haus, dafür mit Pfützen davor?
War das meine Zukunft? Vermutlich nicht, denn Damián studierte ja, wollte in einer Indianerstadt des Cauca eine Universität gründen. Wir würden in einer ordentlichen Wohnung wohnen. Die Überlegung kam mir trotzdem wie Verrat an der Bedingungslosigkeit meiner Liebe vor. Aber musste ich wirklich überall mit ihm leben wollen, auch in einer Hütte im Urwald, wenn ich ihn wirklich liebte? Vielleicht hatte Damián genau das gemeint, als er sagte, es gehe nicht. Aber er hatte auch gesagt, er werde sich mit mir in Verbindung setzen, und hatte es nicht getan. Vielleicht hätte ich das akzeptieren sollen! Aber in mir protestierte alles dagegen, bei der geringsten Schwierigkeit aufzugeben. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!
Ich hörte den Regen kommen. Er rauschte den Hang herauf, im nächsten Moment schon schlugen erste große Tropfen auf meine Schuluniform. Ich flüchtete unter das Dach der Hütte, das weit genug vorragte, um mir Schutz zu gewähren. Der kleine Hund fing wieder an zu kläffen.
Plötzlich stand sie vor mir, die Alte mit den langen silberdurchwirkten schwarzen Zöpfen, dem schwarzen Hut auf dem Kopf und dem bunten Rock unter einem blauen Poncho. Ich hatte sie nicht kommen sehen. An den dunklen Flecken auf ihren Schultern erkannte ich, dass auch sie aus dem Regen kam.
» Hola , Jasmin«, sagte sie.
» Hola , Juanita«, stotterte ich.
Sie lächelte mit blitzenden Goldzähnen. »Bist du doch gekommen? Pasa , komm herein. Der Kaffee ist fertig.«
Sie tippte die Haustür an, die nach innen aufging. Der kleine Kläffer schoss heraus und rannte an mir vorbei, den Waldweg zum Tor hinab, um zu bellen. Die Alte lachte. »El Tonto!«, sagte sie.
Das hieß »der Idiot«.
»Heißt er so?«
»Er hat eigentlich einmal ganz anders geheißen. Aber inzwischen heißt er so. Er hat sich den Namen redlich erworben.« Sie kicherte. »Willkommen, Jasmin.« Sie streckte mir eine rissige Hand hin. Sie fühlte sich warm und trocken an und etwas rau. »Und nun komm herein.«
»Ich wollte nur was fragen«, sagte ich hastig.
»Ja?« Ihre pechschwarzen Augen glitzerten tief in den Höhlen, ein Strahlenkranz aus Lachfalten milderte die durchdringende Schärfe ihres Blicks. Sie war zwei Köpfe kleiner als ich und musste zu mir aufblicken. Aber mir kam es eher so vor, als blicke sie auf mich herab. »Was willst du mich fragen?«
»Ich habe ... äh ... kennen ... kennen Sie Damián Dagua?«, platzte es schließlich aus mir heraus.
»Das ist mein Enkel.«
»Ist er ...« Mir stockte die Stimme. »Ist er hier?«
Die Alte lächelte über beide Backen. Ihr Gesicht versank in Lachfalten und sie begann leise zu lachen. Es klang mütterlich und mitfühlend, wissend und amüsiert. Ich kam mir ertappt vor. Zweifellos durchschaute sie mich bis auf den Grund meiner Nöte, Gefühle und unglücklichen Verwirrung. Aber es war mir egal. Es war mir sogar recht. Da brauchte ich mich nicht cooler zu stellen, als ich war.
»Nein, cariño «, sagte sie schließlich, und ein Schatten fiel über ihr Gesicht. »Er ist nicht mehr hier«, sagte sie traurig und zugleich besorgt um mich. »Er musste fort.«
»Warum? Wohin?«
»Seine Schwester Clara ist krank. Wenn es noch einen anderen Grund gibt, so hat er ihn mir nicht genannt. Aber junge Männer sagen ihrer alten Mama Lula nicht immer, warum sie etwas tun.«
Ich begriff, dass Mama Lula in ihrer Sprache Großmutter hieß.
»Ich muss ...«, stammelte ich, »ich wollte ... ich muss ihm etwas erklären.«
»So? Komm herein.« Sie nahm mich am Arm und schob mich in die Hütte.
Drinnen herrschte Dämmerung. Die Hütte enthielt nur einen Raum, der Küche, Schlafstatt und Wohnzimmer zugleich war. In den Regalen befanden sich geheimnisvolle Utensilien: Stöcke, Schalen mit Kräutern und Tierhaaren, Knochen, Masken und Felle. Auf der einen Seite stand ein gemauerter Herd, in dem ein Holzfeuer glomm. Auf der Eisenplatte kochte eine Kanne Kaffee. Auf der anderen Seite des Raums stand ein einfaches Bett mit einer Waschgelegenheit und in
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