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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Leute erklärten uns, dass es seit fünf Tagen regnete. Weiterfliegen wäre lebensgefährlich gewesen. Zurückfliegen auch. Die Aussicht, eine Woche lang in Campoalegre, dem »fröhlichen Feld«, festzusitzen, machte vor allem Elena nervös. »Soll ich etwa meinen Geburtstag am Sonntag in diesem Kaff verbringen?«
    Leandro schickte seine Leute los, zwei Autos zu organisieren. Es waren gut hundert Kilometer bis hinauf nach Inza und bis zur Mine, und die Straße sah zumindest hier in der Ebene gut aus. Mit den Autos oder mit einem Bus hätten wir auch nach Bogotá zurückfahren können, aber das wollte niemand wirklich, vor allem mein Vater und Leandro nicht.
    Wir schlugen uns in einem Wirtshaus die Bäuche mit Ajiaco voll, der Suppe mit Hähnchen, Kartoffeln und Maiskolben, sahen dem Regen beim Fallen zu und warteten. Nach zwei Stunden erschienen zwei Männer mit zwei Jeeps und erklärten sich bereit, uns in die Berge zu fahren. Aber der Weg sei gefährlich: Guerilleros, Paras, kriminelle Banden, Erdrutsche, Laster, die die Straße versperrten. Leandro zückte Scheine in dicken Bündeln und die Gefahren nahmen rasch ab. Aber fünf Stunden würde es schon dauern. Besser, man führe erst am nächsten Morgen, dann komme man nicht in die Dunkelheit. Leandro legte noch ein Bündel Scheine drauf und es konnte losgehen.
    Die Sicherheitsleute saßen im vorderen Jeep, mein Vater, Leandro, Elena und ich samt der medizinischen Ausrüstung stiegen in den zweiten Jeep. Als wir den See und die spärlichen Felder hinter uns ließen, bekreuzigte sich unser Fahrer. Er trug ein goldenes Kreuz um den Hals und einen Ring am Finger. Zwar fehlten ihm etliche Zähne, aber er gehörte ohne Zweifel zu den Reichen hier in der Gegend. Sein Bruder und er fuhren schwere Toyota-Geländewagen mit acht Zylindern. Die brauchten wir auch. Die schöne Straße versickerte bald in engen, steinigen Serpentinen. Das Wasser lief in Bächen die Straße herab oder kreuzte sie, tiefe Schlammlöcher warfen uns im Auto hin und her. Elena kreischte jedes Mal. Die Scheiben beschlugen vom Nebel. Manchmal sah man kaum zehn Meter weit. Immer wieder verloren wir den vor uns fahrenden Jeep aus den Augen. Es war, als führen wir im Nichts nach Nirgendwo, durchgeschüttelt von einer Straße.
    Leandro saß vorn und starrte gespannt durch die Windschutzscheibe. Mein Vater hatte bereits das Vergnügen an der Holperfahrt verloren und hielt sich auf seiner Seite am Türgriff fest. Elena saß in der Mitte, und immer wenn sie gegen mich fiel, schlug ich mit dem Oberarm gegen die Tür. Lustig war es wirklich nicht.
    Unser Fahrer behauptete, es sei schlimmer, als er befürchtet habe. Er hoffe, dass wir noch vor Einbruch der Dunkelheit den Todeshang erreichen würden. Der sei sehr gefährlich, viele hätten dort die Kontrolle über ihr Fahrzeug verloren und seien Hunderte von Metern in die Tiefe gestürzt.
    Das alles machte mir keine Angst. Ich staunte darüber. Es war mir gewissermaßen unmöglich, Angst oder Sorge zu empfinden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass wir hier auf dieser Straße sterben würden. Und selbst wenn, dann passierte es eben. Dann brauchte ich mir keine Gedanken mehr zu machen, dann brauchte ich das ganze lange Leben, das noch vor mir lag und mit Lernen und Arbeiten, Verlieben, Lieben und Sich-Trennen gefüllt werden wollte, nicht mehr zu leben. Auch recht. Es würde eh alles so kommen, wie es kommen musste. Wozu sich anstrengen mit Angst oder Vorfreude, Befürchtungen und Plänen?
    Mein Vater mit seiner Sehnsucht zu helfen, mit der Leidenschaft des Arztes, Krankheiten zu finden, sie mit Apparaten, Mitteln und Operationen zu beseitigen und Menschen gesünder zu machen, wenn vielleicht auch nicht unbedingt glücklicher, und Elena mit ihrer kindlichen Vorfreude auf ein teures Schmuckstück und ihren Schreckensschreien, immer wenn der Wagen auf die Seite kippte – sie waren mir beide sehr fremd in diesem Moment. Dieses angestrengte Wollen immer. Ich hatte aufgehört zu wollen, denn was ich wollte, was ich mir wünschte, das würde ich nicht bekommen. Es war unmöglich. Und alles andere, was ich stattdessen bekommen würde – einen angesehenen Beruf, vielleicht einen Mann, Kinder, ein Haus, Urlaubsreisen –, das interessierte mich gerade überhaupt nicht.
    Dennoch war ich nicht mehr innerlich so eingefroren wie noch vor zwei Wochen. Es war mir nicht alles egal. Es war mir nur alles nicht mehr so wichtig. Und auch wenn es fürchterlich unbequem war und

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