Der Ruf des Kolibris
ich blaue Flecken am Oberarm bekommen würde, genoss ich die Fahrt in das wilde Gebirge, ins Indianergebiet.
Auf der Karte hatte ich gesehen, dass Inza gar nicht so weit entfernt lag von Tierradentro und San Andrés de Pisimbalá, wo Mama Lula Juanita und ihr Enkel Damián herkamen. Ich würde die Berge sehen, die er gesehen hatte. Ich würde die Vögel hören und die Luft riechen, die er in seiner Kindheit gehört und gerochen hatte. Ich würde ihm nahekommen.
Wir fuhren durch winzige Dörfer, die aus regennassen Wellblechhütten bestanden. Halb bekleidete Kinder und Alte drängten sich an die Hauswände, damit wir in unseren Jeeps die schlammige Straße überhaupt passieren konnten. Manchmal begegneten wir einem einsamen Mann oder Kindern, die mit in Tüchern gewickelten Lasten auf dem Rücken und Gummistiefeln an den Füßen unterwegs waren, den Berg hinauf oder hinab.
Irgendwann ließ der Regen nach. Die Wolken rissen auf, und wir konnten das Gebirge sehen: immense Hänge, so schroff, dass es kaum Pflanzen darauf hielt, durchfurcht von Wasserfällen, Täler in schwindelerregender Tiefe, Kaffeeplantagen, Nebel, der in Fetzen über die Pässe zog.
Nach sechs Stunden hatten wir knapp die Hälfte des Wegs geschafft. Es war gerade noch hell, als wir den Todeshang erreichten. Einspurig führte die holprige Straße an der fast senkrechten Felswand entlang. Entgegenkommen durfte uns hier niemand. Leandro erklärte uns mit angespannter Stimme, dass das Gestein schieferhaltig sei und bei Regen schmierig werde wie Seife. Links ging es senkrecht hinunter. Ich konnte es gut sehen. Elena hatte die Augen geschlossen, mein Vater blickte auf der anderen Seite auf den Felsen. Und dann fiel die Nacht auf uns herab mit einer Geschwindigkeit, an die ich mich nie gewöhnen würde. In diesen Breiten dauerte die Dämmerung nur Minuten, dann war es stockfinster. Der Abgrund sackte in die Unsichtbarkeit. Die Scheinwerfer zuckelten über Steine und Schründe.
Und plötzlich stockte alles. Wir rückten auf den Jeep der Sicherheitsleute auf, der vor uns fuhr. Er stand. Davor standen noch zwei weitere Fahrzeuge, soweit ich das in der Finsternis erkennen konnte. Erstaunlich, wo die herkamen in dieser Einöde. Sie standen, weil ein Sattelschlepper sich im Schlamm festgefahren hatte. Ich fragte mich, wie er überhaupt den Todeshang hinaufgekommen war. Schon im Jeep hatte die Straße zu schmal für vier Reifen ausgesehen.
»Das könnte eine Falle sein«, bemerkte Leandro. »Türen zu und verriegeln!«
Aber Elena wollte sich unbedingt die Beine vertreten. »Sonst kriege ich einen Anfall, Papa!«
Leandro gab nach und stieg selber aus. Ganze sieben Stunden hatten wir uns jetzt durchschütteln lassen. Die Luft war kalt und feucht. Es roch nach nassem Stein und fremden Hölzern und Kräutern.
Mein Vater atmete tief ein. Leandro rauchte eine Zigarette. Über uns lag die Mondsichel auf dem Rücken und das Sternbild des Orion stand im Zenit. In den umliegenden Bergen glitzerten einzelne Lichter.
»Wer da wohl wohnt?«, staunte mein Vater. »Und was für ein Leben, so weit weg von jeglicher Zivilisation.«
»Und warum bleiben sie dort?«, fragte Elena. »Warum gehen sie nicht woanders hin? Sie könnten doch, wenn sie wollten.«
»Sie wollen vermutlich nicht«, sagte ich.
»Aber wie kann man nur so primitiv leben wollen?«
»Aus Gewohnheit«, bemerkte Leandro. »Sie kennen es nicht besser.«
Es gefiel mir nicht, wie wir über Menschen redeten, die wir nicht kannten, aber ich sagte nichts dazu. Was hätte ich auch sagen sollen? Vielleicht lebte Damiáns kranke Schwester Clara in so einem Ort, der nachts sein einsames Licht in die Dunkelheit schickte. Und sie hatte einen ganz bestimmten Grund, warum sie dort lebte.
Aber ich musste mir eingestehen, dass ich nicht jahraus, jahrein mitten im Urwald am Berg würde leben können, so ganz ohne Bücher, ohne Musik, ohne Internetzugang und E-Mails, ohne Kino. Vielleicht war es dumm, denn man brauchte viel weniger zum Leben, als man dachte, aber ich musste mir meine Möglichkeiten ja auch nicht beschneiden, indem ich die Zivilisation ablehnte. In der Bildung, hatte Damián gesagt, liegt der Schlüssel zum Wohlstand. Er wusste das.
Die Motoren des Sattelschleppers röhrten immer mal wieder auf, die Räder pfiffen. Dunkle Gestalten huschten durchs Scheinwerferlicht der wartenden Autos. Plötzlich kamen unsere Sicherheitsleute herbei, umringten uns schützend und zogen die Waffen.
»Verdammt!«,
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