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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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hatte ich ihn als Reiter und Krieger erlebt, an der Hand eine Wunde von einem düsteren Kampf, und ihn für einen Mörder gehalten. Er kannte sich aus mit den Tieren und Pflanzen des Urwalds. Vorhin beim politischen Schlagabtausch mit Leandro hatte ich in ihm den künftigen Präsidenten von Kolumbien gesehen, und jetzt saß er vor mir im Schein des Lagerfeuers unterm Sternenhimmel als Musiker, der mehr Augen für seine kranke Schwester hatte als für mich oder jeden anderen.
    Wieder schämte ich mich, dass wir, auch ich, vorhin am Geröllhang plötzlich Angst vor ihm gehabt hatten. Er hatte mein Misstrauen sofort gespürt, und jetzt vermied er es, mich anzuschauen. Es schien, als versteckte er sich ein wenig zwischen den Seinen, als wollte er mir auf diese Weise demonstrieren, dass sein Leben, seine Kultur, die reicher war, als ich gedacht hatte, auch wenn sie äußerlich primitiv wirkte, mir immer fremd und unzugänglich bleiben würde. Er konnte hier oder in der Stadt leben, er fand sich im Urwald zurecht und im Internet, er war Krieger und Student, er war vertraut mit dem Tod und der Musik, und das mit zwanzig Jahren.
    Plötzlich kam ich mir klein und unbedeutend vor, unerfahren und unreif. Was konnte ich schon? Nichts. Ich wusste bestenfalls, wie man auf einem Flughafen in ein Flugzeug eincheckte und wie man möglichst viele Titel auf einen MP3-Player lud. Was hatte ich erlebt? Ein bisschen Mobbing in der Schule. Ich kam aus einer Welt, in der es keine Probleme gab, es sei denn, man machte sie sich. Verglichen mit dieser kleinen Familie, die immerhin ein Haus besaß, ein Maisfeld und etliche Tiere, waren wir reich, unermesslich reich. So reich, dass ich mir nie über Politik Gedanken gemacht hatte. Es war nicht nötig, dass wir noch für etwas kämpften. Wir hatten ja alles.
    Damiáns ruhiges Gesicht mit den scharf gezeichneten Lippen, den schmalen Augen, den zuckenden Brauen und den wie Pech glänzenden Haaren, deren letzter Schnitt mindestens drei Wochen zurücklag, verbarg Erlebnisse, Gefühle und Wünsche in einer Menge und Intensität, wie ich sie nie ermessen können würde.
    Ich hatte nie Hunger gelitten, und wenn ich krank wurde, kümmerten sich Ärzte um mich und die Krankenkasse zahlte. Meine Eltern waren nicht vor meinen Augen erschlagen worden. Bis vorgestern hatte ich nie Maschinengewehre und Pistolen gesehen. Mit einem Mal kam es mir sogar egoistisch vor, Damián mit meinen Gefühlen und Wünschen zu behelligen. Er konnte sich nicht mit mir aufhalten, ich würde sein Leben nur noch komplizierter machen, als es ohnehin schon war. Wie sollte es denn gehen? Wollte ich hier oben Lamas hüten und Pullover stricken und Kinder kriegen? Würde er mit mir in einer Stadtwohnung in Bogotá oder Popayán wohnen? Und was sollte ich da tun, außer Wäsche waschen und Kinder großziehen? Es ging wirklich nicht. Er hatte das sofort gesehen. Wie passten wir zusammen, er mit seinen Kämpfen und revolutionären Projekten, ich mit meinen sechzehn Jahren, meinem europäischen Denken, meiner Schulweisheit? Immerhin wollte ich Ärztin werden. Das war das einzig Sinnvolle, was ich tun konnte, wenn ich in diesem Land zu irgendetwas nütze sein wollte.
    Damián und seine Cousinen wechselten zu südamerikanischer Volksmusik, erst bekannter, dann solcher, die nicht einmal mehr Elena kannte. Nur Leandro konnte noch mitsingen.
    Und mir wurde klarer als klar, fürchterlich klar, dass ich Damián liebte. Ich würde ihn immer lieben, egal, wer er war und was er getan hatte. Aber in diesem lichten Moment in der Nacht in den Nebelbergen der Anden erkannte ich auch, dass meine Gefühle für Damián zu einem großen Teil Schwärmerei waren. Irreal. Unwirklich. Eine Illusion. Ein Traum aus einer anderen Welt, die in utopischer Zukunft lag und in der es gerechter, friedlicher und gelassener zuging.
    Ich würde auf ihn verzichten müssen, sagte ich mir. Zu seinem Besten. Das war in den sieben Leben der Liebe mein Opfer, das ich bringen würde, bringen musste. Aber wenn ich mir eines doch noch wünschen durfte, dann würde ich mir wünschen, dass Damián der erste Mann würde, mit dem ich schlief. Die eine Nacht mit ihm. Erst die Erfüllung, dann mein Opfer. Das war doch vielleicht nicht zu viel verlangt.

de

– 19 –
     
    K älte weckte mich trotz der warmen Alpakadecken, die über mir lagen. Elena schlief noch. Neben ihr lag Leandro. Aber der Platz meines Vaters war leer. Das Haus bestand aus zwei Räumen. Vorne schlief Damiáns

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