Der Ruf des Kolibris
Verschwiegenheit. Niemals hätte er mit mir oder gar in Gegenwart von Leandro und Elena über Claras Krankheit gesprochen.
Ich trat kräftig auf und ließ ein Steinchen rollen.
Damián fuhr herum.
» Buenos días! «, sagte ich und vermisste wieder mal unter den spanischen Grüßen das »Guten Morgen«.
Damián sprang auf, murmelte etwas, was als Gruß gelten mochte oder als Erklärung, dass er etwas zu tun habe, und verließ die Feuerstelle in Richtung Bach.
Mein Vater faltete die Papiere zusammen und steckte sie in einen abgegriffenen Umschlag zurück. Sie enthielten, wie ich immerhin sehen konnte, Zahlenreihen von labortechnischen Untersuchungen unter dem Briefkopf eines Krankenhauses von Popayán.
»Schlechte Nachrichten?«, fragte ich.
»Hm.«
»Ich habe eben aus Versehen ein bisschen was mitgehört«, gestand ich. »Eine Krankenversicherung gibt es nicht, die die Kosten übernimmt, oder?«
Mein Vater blickte mich mit seinen grauen Augen an. »Kolumbien hat eine vergleichsweise gute Krankenversorgung. Bei Angestellten funktioniert das mit den Krankenkassen wie bei uns in Deutschland. Und für die Arbeitslosen, die Vertriebenen und die Indígenas gibt es das sisben , eine Sozialversicherung, wo die Eigenbeteiligung je nach Einkommen abgestuft ist. Im Notfall muss jedes staatliche Krankenhaus die Menschen erst einmal kostenlos behandeln.«
»Na dann!«
»So einfach ist es nicht, Jasmin. Falls Clara derzeit nicht krankenversichert ist, kann sie einen Antrag stellen. Kein Problem. Aber man würde kommen und sie zu Hause besuchen und schauen, wie viel ihre Familie besitzt. Und das ist vergleichsweise viel. Tiere, ein Haus, es gibt Einkommen, das die Frauen mit Wolle und Stricken verdienen. Das sisben hat verschiedene Niveaus. Wenn jemand gar nichts hat, muss er auch nichts zuzahlen. Aber schon bei Niveau 1 müssten Clara oder ihre Familie fünf Prozent der Kosten für Behandlung und Medikamente übernehmen. Fünf Prozent von 15.000 Dollar im Monat, das wären 750 Dollar! Das ist unvorstellbar viel für so eine Familie. Und es ist auch sehr die Frage, ob die Sozialkasse überhaupt eine so teure Spezialbehandlung zahlen würde. Vermutlich müsste man es mit Anwalt einklagen. Und bis es so weit ist, dass die Kasse zahlt, müsste jemand die Kosten für die Behandlung auslegen.«
»Das könnte Leandro doch machen. Ich meine, der hat doch Geld wie Heu und außerdem ist er Damián verpflichtet und ...«
»Stopp, Jasmin!«
»Aber wenn man ihn fragen würde ... «
»So geht das nicht. Du wirst auf keinen Fall irgendjemandem etwas erzählen! Weder Elena noch Leandro. Dem schon gar nicht! Das ist Sache von Clara und ihrer Familie. Du darfst dich da nicht einmischen.«
»Aber ...«
»Kein Aber. Du kannst nicht einfach fremde Leute verpflichten, dass sie womöglich über Jahre hinweg, wenn nicht ein ganzes Leben lang, die Behandlung für einen ihnen fremden Menschen finanzieren. Das würde nämlich auch bedeuten, dass Clara ein Leben lang von diesen Leuten abhängig wäre. Und was, wenn sie plötzlich nicht mehr zahlen können oder wollen? Dann würden sie sie zum Tod verurteilen. Nein, Jasmin. Es klingt zwar hart, doch das sind Probleme, die man mit privaten Mitteln nicht lösen kann.«
»Aber dann wird sie sterben, oder?«
»Langsam! Wer weiß, ob das, was ich jetzt vermute, wirklich stimmt. Damit ich eine genaue Diagnose stellen kann, müsste Clara mit uns nach Bogotá kommen. Bei uns im San Vicente haben wir sehr viele Möglichkeiten.«
»Okay. Dann nehmen wir sie mit. Ihre Großmutter lebt ja dort.«
Mein Vater lächelte schwach. »Das scheint nicht so einfach zu sein.«
»Wieso nicht?«
»Das habe ich auch nicht kapiert. Anscheinend ist der Onkel dagegen.«
»Welcher Onkel?«
»Der Mann von Damiáns Tante Maria.«
»Und wo ist der?«
Mein Vater zuckte mit den Schultern. »Das wollte Damián mir nicht so genau sagen. Jedenfalls ist er derzeit nicht hier, und ich hatte den Eindruck, dass das ganz gut so ist.«
Mein Vater rieb sich fröstelnd die Hände. Sein Bart war struppig, gekämmt hatte er sich auch nicht. Eigentlich sah er voll süß aus. Wieder einmal war ich ein bisschen stolz auf ihn. Er hatte bisher keinen Stress gemacht, im Gegenteil. Es schien ihm Spaß zu machen. Nie hätte ich gedacht, dass er sich auf so ein Abenteuer einlassen würde. Ich hätte eher erwartet, dass er darauf bestanden hätte, dass wir in Popayán blieben, zur Polizei gingen, die Rückreise planten.
Das würden
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