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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Familie, hinten hatte man uns zwischen Säcken mit Mais und Zucker, Töpfen mit Wollfarbstoff und Wollballen auf dem Boden Lager bereitet.
    Ich stand auf, sehnte mich nach einer Dusche, tadelte mich für den Wunsch nach minimalem Luxus und verließ durch die hintere Tür die Hütte. Die Sonne ging gerade auf, rosiger Nebel kroch durch die Schluchten herab und verdampfte. Im Osten standen die Berge nicht ganz so hoch. Das Tal von Yat Pacyte, in dem wir uns befanden, stieg klar und tauglitzernd gen Südwesten an, bis die bewaldeten und schroffen Hänge es abfingen. In zweiter und dritter Reihe wurden die Gipfel der Anden immer blauer.
    Die Kinder befanden sich am Bach, der die tiefste Stelle des Tals durchschnitt. Ana war bei ihnen, Alejandra sah ich über die Weiden auf eine Kuh mit Kalb zustapfen. Sie hatte einen Eimer in der Hand. Ich holte Zahnbürste und Zahnpasta, die wir gestern Vormittag zusammen mit ein paar notwendigen Kleinigkeiten mithilfe von Leandro noch gekauft hatten, denn er hatte auf einer Bank Geld holen können, und begab mich ebenfalls zum Bach. Ana war dabei, Geschirr und Töpfe aus Blech zu spülen. Sie lächelte, schien aber nicht zu wissen, was sie sagen sollte. Ich sagte, ich hätte gut geschlafen. Sie nickte und lächelte.
    »Es ist schön hier«, ergänzte ich. »Es gefällt mir.«
    Sie lächelte immer noch. »Aber es ist sicher auch schön, in der Stadt in einer Wohnung zu wohnen, wo das Wasser aus der Wand kommt und wo man Brot in einem Laden kaufen kann.«
    »In der Stadt ist es laut und staubig«, sagte ich, kam mir dabei aber vor, als würde ich etwas schlechtreden, was ohne Zweifel einfach besser war. Fließendes Wasser, elektrischer Strom und vor allem ein Klo im Haus. Elena hatte mir gestern Nacht erklärt, dass das Loch in der Erde hinter dem Bretterverschlag, über das diese Ansiedlung verfügte und aus dem die Fliegen stiegen, fast schon Luxus war. Vielerorts gingen die Leute einfach auf die Weide und hockten sich zwischen Lamas und Schafen nieder.
    Die Kinder guckten, als ich mir die Paste auf die Bürste quetschte und mir die Zähne zu putzen begann. Das Wasser war eisig kalt und glasklar. Kleine Fische schossen darin herum.
    Ich fragte Ana, ob ich ihr abwaschen helfen sollte, aber sie schüttelte den Kopf. Also ging ich zurück. Elena und ihr Vater schliefen immer noch, als ich meine Zahnbürste und die Tube zurücklegte.
    An der Feuerstelle vor dem Haus saßen, mit dem Rücken zu mir auf dem Boden, mein Vater und Damián. Mein Vater blätterte in Papieren, wie ich erkennen konnte, und Damián stocherte mit einem Stock im Feuer. Auf dem gemauerten Herd standen ein Topf und eine große Kanne, in der, wie ich hoffte, Kaffee kochte. Die beiden hatten mich noch nicht bemerkt, und ehe ich mich bemerkbar machen konnte, wandte sich mein Vater an Damián. »Diese Untersuchungen hier«, fragte er, »sind vor einem halben Jahr im Krankenhaus gemacht worden?«
    Damián nickte. Er trug, obwohl es kühl war, ein graugrünes T-Shirt, unter dem seine Schulter- und Rückenmuskeln spielten.
    »Die Nierenwerte sind nicht gut«, sagte mein Vater. »Die Blutwerte deuten auf eine Entzündung hin. Was haben die Ärzte damals diagnostiziert?«
    »Eine Stoffwechselerkrankung«, antwortete Damián. »Sie haben gesagt, es sei ein Gendefekt. Es ist unheilbar.«
    Mein Vater nickte vor sich hin. »An eine Stoffwechselkrankheit habe ich auch schon gedacht. Wenn es das ist, was ich vermute, dann kann man es behandeln. Clara könnte ein normales Leben führen. Sie müsste allerdings ein bestimmtes Enzym nehmen, und das ein Leben lang. Und sie müsste wohl in die Stadt ziehen, damit sie regelmäßig Infusionen bekommen kann. Leider sind diese Enzyme ...« Er stockte.
    »Sie sind teuer«, bemerkte Damián.
    Papa nickte. »Es ist eine sehr seltene Krankheit. Man gewinnt die Enzyme aus Zellkulturen des chinesischen Hamsters.«
    Damiáns Rückenmuskeln zuckten, er stocherte schweigend im Feuer, das mit ärgerlichen Funken antwortete.
    »Eine Portion Infusionslösung kostet«, fuhr mein Vater fort, »über siebentausend US-Dollar. Clara brauchte alle vierzehn Tage eine Infusion. Das würde also ungefähr 15.000 Dollar im Monat kosten. Ich denke, die Umrechnung in eure Pesos kann ich mir sparen.«
    Damián lachte trocken auf und warf den Stock ins Feuer.
    Es war Zeit, dass ich mich bemerkbar machte. Eigentlich hätte ich das nicht hören dürfen, denn, wie gesagt, mein Vater legte großen Wert auf die ärztliche

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