Der Ruf des Kolibris
wir Mama nie erklären können. Ich musste innerlich lachen. Sie würde ihm nachträglich alle die Risiken und Gefahren vor Augen führen, die er in Kauf genommen hatte. »Wie konntest du das nur tun?« Völligen Mangel an Verantwortung als Vater würde sie ihm vorhalten, Unvernunft, romantische Vorstellungen, Vertrauensseligkeit. »Fünf Stunden auf dem Pferd? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du kannst doch gar nicht reiten!« Es würde klingen, als ob sie ein kleines Kind ausschimpfte. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«
»Hast du mal mit Mama telefoniert?«, erkundigte ich mich.
»Gestern Abend. Alles okay! Ich soll dir Grüße ausrichten.« Er zwinkerte mir zu.
»Hast du ihr gesagt, wo wir sind?«
Mein Vater grinste. »In einem idyllischen Dorf in den Bergen bei gastfreundlichen Leuten.«
Ich lachte.
»Ist es denn nicht so?« Papa feixte. »Allerdings habe ich langsam Hunger.«
Ich hob den Deckel von dem Topf, der auf dem Herd stand. Knoblauchduft warf mich fast um. Was da brodelte wie Lava, war eine Changua, eine Suppe aus Milch, Wasser, Zwiebeln und Eiern. Die Hauptmahlzeit eben.
»Der Hunger treibt’s rein«, murmelte mein Vater. »Übrigens sollen wir nur abgekochtes Wasser trinken, sagt Mama. Und nur unter Malarianetzen schlafen.«
Wir lachten.
Maria kam aus dem Haus mit Bechern für den Kaffee und Löffeln für die Suppe. Sie lächelte freundlich und erklärte, dass Alejandra gleich mit der Milch komme. Sie begann Kochbananen zu schälen und legte sie zum Braten auf ein Blech. Die Kinder wuselten inzwischen ebenfalls bei uns herum. Leandro und Elena erschienen verschlafen und gähnend.
»Wo kann man sich die Zähne putzen?«, fragte Elena morgenmuffelig.
»Am Bach«, sagte ich und wies in die Richtung. »Das Wasser ist absolut klar und sauber. Soll ich mitkommen?«
Elenas Gesicht hellte sich auf und wir machten uns auf den Weg. Alejandra kam mit ihrem Eimer die Weide herab. Unsere Pferde hatten sich ziemlich weit entfernt, wie ich jetzt sah. Drei von ihnen hatten sich hingelegt, wie es Pferde gerne taten, wenn es am Morgen wieder hell wurde.
Damián war auf dem Weg hinauf zu ihnen. Ohne Hast, aber zügig schritt er aus.
»Was hat seine Schwester denn eigentlich nun?«, erkundigte sich Elena.
»Keine Ahnung. Mein Vater spricht mit mir nicht über die Krankheiten anderer Leute.«
»Hm.«
»Aber er würde sie gerne mit nach Bogotá nehmen.«
Elena machte nur noch Geräusche, denn sie hatte begonnen, sich die Zähne zu putzen. Sie hob das Kinn in Richtung von Damiáns Gestalt und stieß unartikulierte Zahnpastalaute aus, die klangen wie: »Hm-hmm-hm-hm-hmmmm?«
»Ganz recht«, antwortete ich lachend. »Ich gehe ihn holen. Gleich gibt es Frühstück.«
Und damit setzte ich mich in Marsch.
»He!«, rief mir Elena hinterher. Was sie sonst noch sprudelte, klang wie: »Warte doch mal!«
»Ich bin doch gleich wieder da!«, rief ich ihr zu.
Elena zog eine fatalistische Grimasse und winkte mir zu, dass ich mich vom Acker machen sollte.
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– 20 –
D ie Luft war klar und kalt. Es tat gut, die steifen Muskeln zu bewegen. Ich schritt zügig aus. Der Boden war weich. Unter meinen Füßen knackten Kraut und Gräser, die den freien Flächen hier einen gelblichen Grünton gaben. Wenn man genau hinsah, entdeckte man winzige Blüten, seltsame Dolden und ledrige Blätter. Tautropfen glitzerten überall. Die Sonne ging in meinem Rücken auf und warf einen blauen Schatten vor mich. Es schien, als verdunste der Tau als bläulicher Nebel dicht über dem Boden. Der zarte Zauber des Morgens täuschte darüber hinweg, dass wir uns in einer der ursprünglichsten und wildesten Gegenden der Welt befanden.
Die Nacht hatte meine Gedanken geklärt. Gestern noch hatte ich auf jede kleinste Gefühlsregung von Damián mit dramatischen Gefühlswallungen meinerseits reagiert. Und er wiederum hatte sich von jedem Signal meiner Unsicherheit zurückweisen, zurückstoßen und vertreiben lassen. So einen grauenvoll dramatischen Tag wollte ich nie wieder erleben. Heute konnte ich schon fast darüber lächeln. Mein Standpunkt war auf einmal glasklar. Es war, als hätte sich mein innerer Kompass plötzlich genordet. Meine Unsicherheiten und Zweifel waren verflogen. Ich liebte Damián. Diesen und keinen anderen, auf Gedeih und Verderb, für immer und ewig. Und wenn er mich nicht liebte oder wenn ich nicht in sein Leben passte, dann musste er mir das jetzt sagen und erklären und begründen.
Und dann würde
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