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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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uns nie aus den Augen zu lassen. Als wieder einmal ein Stein rollte, zuckte er zusammen.
    Mitleid überwältigte mich plötzlich. Vermutlich war unser Ausflug für ihn auch nicht einfach. Er war ja nicht begeistert davon gewesen, dass mein Vater seine kranke Schwester untersuchen wollte. Vielleicht wollte er sich nicht neue Hoffnungen machen, wo keine mehr bestanden. Und wir waren so arrogant, zu glauben, dass ein deutscher Arzt Wunder bewirken konnte, was voraussetzte, dass wir den Ärzten im Hospital von Popayán nichts zutrauten. Vielleicht hatte er auch keine Lust gehabt, sich mit vier nervösen Städtern zu belasten. Vermutlich hatte er vorausgesehen, dass die Verantwortung, die er damit übernahm, groß sein würde.
    Doch warum hatte er nachgegeben und sich auf das Unternehmen eingelassen? Mich hatte die Aussicht, ihm wenigstens zwei Tage ganz nahe zu sein, beflügelt. Hatte er genauso empfunden? War er der Versuchung erlegen, dem riskanten Ausflug in die Berge zuzustimmen und uns zu sich nach Hause zu führen, weil auch er doch nicht so einfach von mir lassen konnte, wie es nach dem Diplomatenball ausgesehen hatte?
    Oder war es nur ein Missverständnis und seine Haupthoffnung galt seiner Schwester und den medizinischen Künsten meines Vaters? Würde mein Vater seine Hoffnungen einlösen können? Ich hoffte es sehr. Ich wünschte es mir dringend. Leider nicht ganz uneigennützig, so sehr ich mich auch bemühte, jeden Nebengedanken zu vertreiben. Mir schien, dass Damián irgendwie Teil unserer Familie wurde, wenn mein Vater seiner Schwester helfen konnte. Mein Vater und schließlich auch meine Mutter würden ihn mit anderen Augen sehen lernen. Und er? Wenn mein Vater seiner Schwester helfen konnte, würde er dankbar sein, würde uns, auch mich, nicht einfach vergessen können, würde den Kontakt mit uns aufrechterhalten müssen und vielleicht mit der Zeit erkennen, dass die Gräben zwischen uns und ihm gar nicht so tief waren und dass ich gewillt war, sein Leben zu verstehen. Wir würden Zeit bekommen, uns kennenzulernen. Zeit! Fast ein Jahr noch! Und wenn das Jahr rum war, konnte er mich nicht mehr einfach gehen lassen. Dann konnte er nicht einfach sagen: »Es geht nicht.«
    Auf einmal waren wir drüben auf der anderen Seite der Halde. Mein Vater befreite uns aus dem Seil. Wir bestiegen die Pferde wieder und setzten unseren Ritt fort. Damián hatte das kleine Mädchen zu sich in den Sattel genommen. Kein einziges Mal hatte er mich angeblickt. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Unterlider stiegen.
    Was für ein fürchterlicher Tag!

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– 18 –
     
    K urz vor Sonnenuntergang erreichten wir ein gerodetes Hochtal, das mit einem glitzernden Bach in seiner Mitte zu schroffen Felshängen hinaufstieg. Auf den gelbgrünen Flächen weideten weit verstreut Alpakas und zwei Kühe. Ganz unten am Waldrand stand bei einem Maisfeld ein kleines Holzhaus, umgackert von Hühnern.
    Drei weitere kleine Kinder erschienen und betrachteten uns mit großen Augen. Das Mädchen, das Damián bei sich auf dem Pferd gehabt hatte, sprang zu ihnen und grinste stolz. Eine ältere Frau hockte unter dem Vordach des Hauses an einem gemauerten Herd mit offenem Feuer und buk Arepas, die Maisfladen, die man hier anstelle von Brot aß. Sie hatte ihre Arbeit unterbrochen und starrte uns entgegen. Zwischen den Tieren auf der Weide befanden sich zwei junge Frauen mit Eimern in den Händen, die sich unverzüglich in Marsch setzten und zu uns herabkamen.
    Über dem Tal hing ein grauer Himmel, aus dem rasch das Tageslicht verschwand. Nebel kroch aus den Gipfeln nach.
    Wir stiegen ab. Es war unglaublich still.
    Damián stellte uns seiner Familie vor. Die ältere Frau hieß Maria und war seine Tante, die beiden jungen Frauen hießen Alejandra und Ana und waren Cousinen. Der Kindersegen gehörte ihnen, die dazugehörigen Männer waren nicht sichtbar.
    »Und das sind Leandro, Elena, Jasmin und Markus«, stellte Damián danach uns vor, wobei es ihm erneut gelang, meinem Blick auszuweichen. »Markus ist Arzt.«
    Marias Gesicht erhellte sich. »Ah! Gott segne ihn. Clara geht es heute wieder gar nicht gut. Willkommen in Yat Pacyte!«
    »Wo ist Clara denn?«, erkundigte sich mein Vater.
    Sie befand sich im Haus. Maria und Damián führten ihn hinein. Sie kamen aber schon wenig später wieder heraus. In ihrer Mitte ging eine junge Frau. Sie war blass und schmal und es fiel ihr schwer zu gehen. Aber sie war wunderschön. Das dichte schwarze Haar war zu

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