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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Zöpfen geflochten, die schimmernd wie flüssiges Pech bis zum Hintern herabfielen. Ihre Gesichtszüge waren fein und glatt, ihre Augen lebhaft, wenn auch glanzlos. Sie trug einen blauen Poncho mit violettem Saum über einer weißen Bluse und einen schwarzen Rock, unter dem ihre blanken Beine hervorlugten. Die Füße steckten wie die von Maria und den anderen in groben Bergstiefeln.
    Mein Vater und Maria führten Clara zu einem Stein, der ein Stück von der Hütte entfernt aus der grünen Wiese aufragte, und ließen sie darauf niedersitzen. Damián brachte die beiden Arztkoffer vom Packpferd, und mein Vater begann, Clara im letzten Licht des Tages zu untersuchen, während Damián unsere Pferde absattelte und ein Stück weit hinaus auf die Weide führte. Sie begannen sofort zu grasen.
    Ich wusste, dass man meinen Vater bei einer Untersuchung allein lassen musste, ihm war das Arztgeheimnis sehr wichtig. Deshalb wandte ich mich ab und bewog auch Elena und Leandro, bei der Hütte zu bleiben. Maiskolben brutzelten auf dem Rost über dem Feuer. Auf frischen Bananenblättern häuften sich die Arepas, die Maria gerade eben gebacken hatte. In Kolumbien aß man, zumindest auf dem Land, nicht viel zu Abend. Die Hauptmahlzeit war das Frühstück. Außerdem hatte Maria nicht damit rechnen können, dass sie vier Gäste zum Abendessen haben würde. Es schien sie aber auch nicht in Verlegenheit zu bringen. Sie lächelte und brachte aus dem Haus Kochbananen, die sie in der Schale zum Rösten neben das Feuer legte, und Gläser mit eingelegtem Gemüse und rosige Teile, die Leandro als Maniok identifizierte.
    Maria bedeutete uns mit Gesten, uns zu setzen. Sie war eine stabile Frau mit einem müden, aber freundlichen Gesicht. Ich suchte in ihren Zügen nach Ähnlichkeiten mit Juanita. Sie schien sich nicht sicher, ob wir sie verstehen würden, und beschränkte sich darauf, zu lächeln, wobei sie mehrere Zahnlücken offenbarte.
    Die Kinder scharten sich um das Essen. Unser überraschender Besuch bescherte ihnen offensichtlich mehr Köstlichkeiten als sonst. Auch Damián war inzwischen wieder da. Er aß, ohne aufzublicken. Ich merkte erst jetzt, was für einen Hunger ich hatte. Auch Elena langte ordentlich zu. Die jungen Frauen musterten uns neugierig und fragten uns, wo wir herkämen. Wo Deutschland lag, konnten sie sich gar nicht vorstellen. Auch Bogotá war sehr weit weg für sie.
    Als es vollständig dunkel war, kamen auch mein Vater und Clara zu uns ans Feuer. Maria, Damián und seine Cousine Ana machten sofort Platz für sie.
    »Er hat mir eine Spritze gegeben«, erklärte sie uns. Sie lächelte und wirkte frischer als vorhin. Ihr Blick wanderte neugierig über Elena und Leandro und blieb an mir hängen. Das feine Lächeln, das auf ihren Lippen lag, schien speziell mir zu gelten.
    Damián forderte meinen Vater auf, sich zu setzen, und schob ihm Maisfladen, Kochbanane, Maniok und Gemüse zu.
    Mein Vater glaubte immer, er sei gut im Pokerface und niemand könne ihm ansehen, was er über einen Patienten dachte. Aber ich konnte es ihm immer ansehen. Und jetzt sah er gar nicht glücklich aus, aber auch nicht übermäßig ernst, eher nachdenklich.
    »Hm, lecker!«, sagte er gezwungen munter. »Ich habe vielleicht einen Hunger!« Es war seine Art, deutlich zu machen, dass er jetzt nicht über Claras Krankheit reden würde.
    Das Gespräch ging hin und her. Wenn Clara ab und zu ein Wort sagte, dann merkte man sofort, dass sie sich von ihren beiden Cousinen unterschied. Sie sprach ein gutes Spanisch. Offenbar hatte sie wie ihr Bruder eine gute Schulbildung genossen. Aber warum lebte sie dann noch hier, in den Bergen?
    Man konnte es ein einfaches Leben nennen, wenn man es romantisch sah, aber in Wahrheit war es primitiv und armselig und keineswegs glücklicher als das in den Städten.
    Es gelang mir allerdings kaum, mich auf die Unterhaltung zu konzentrieren, denn Damián saß mir schräg gegenüber. Ich musste ihn einfach immer wieder anschauen. Auch er konnte es, wenn er Elena, seine Tante oder Leandro ansprach, kaum vermeiden, dass sein Blick mich streifte. Das Feuer beleuchtete sein Gesicht und gab ihm einen urtümlichen, wilden Anstrich. Er wirkte angespannt und trotz des blauen Ponchos, den er sich übergeworfen hatte, fremd zwischen seinen beiden Cousinen. Sie schwatzten, gelegentlich kichernd, unter sich in einem indianischen Dialekt, den sie Nasa Yuwe nannten, die Sprache der Nasas. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich manchmal

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