Der Ruf des Kuckucks: Roman (German Edition)
er mit seinem gesunden Knie Bristows dünne Brust auf den Boden drückte und mit der Hand des unverletzten Arms nach dem Messer tastete, spaltete ein grelles Licht seine Netzhaut in zwei Teile, und er hörte eine Frau schreien.
Strike erblickte das Messer, das auf seinen Bauch zielte; in seiner Not packte er die Prothese, die neben ihm lag, und prügelte damit auf Bristows Gesicht ein, ein Mal, zwei Mal …
»Stopp! STOPP , CORMORAN ! SIE BRINGEN IHN NOCH UM !«
Strike wälzte sich von Bristow herunter, der reglos liegen blieb, ließ die Beinprothese fallen, sank neben dem umgekippten Schreibtisch auf den Rücken und umklammerte den blutenden Arm mit der freien Hand.
»Ich dachte«, keuchte er, ohne Robin wirklich zu sehen, »ich hätte Sie heimgeschickt?«
Aber sie war schon am Telefon.
»Polizei und Krankenwagen!«
»Und rufen Sie ein Taxi!«, krächzte Strike, heiser vom vielen Reden. »Ich werde auf keinen Fall gemeinsam mit diesem Stück Scheiße ins Krankenhaus fahren.«
Er streckte den Arm aus und griff nach dem Handy, das in der Ecke auf dem Boden lag. Das Display des Geräts war zersplittert, aber es nahm immer noch auf.
EPILOG
Nihil est ab omni parte beatum.
Nichts ist in jeder Hinsicht glückselig.
HORAZ, ODEN, 2. BUCH
ZEHN TAGE SPÄTER
Die Britische Armee verlangt von ihren Soldaten, ihr sämtliche persönlichen Bedürfnisse und Bindungen in einem Maß unterzuordnen, das für Zivilisten kaum zu begreifen ist. So gut wie nichts hat Vorrang vor den Anforderungen des Militärs; und unvorhersehbare menschliche Krisen – wie Geburten oder Todesfälle, Hochzeiten, Scheidungen und Krankheiten – beeinträchtigen sein Getriebe für gewöhnlich ebenso wenig wie ein paar Kieselsteine, die gegen die Bodenplatte eines Panzers schlagen. Nichtsdestotrotz liegen hin und wieder außergewöhnliche Umstände vor; und aufgrund eines solchen Umstands wurde der Einsatz von Lieutenant Jonah Agyeman in Afghanistan vorzeitig beendet.
Die Metropolitan Police benötigte seine Anwesenheit in der Heimat, und obwohl die Army die Ansprüche der Polizei im Allgemeinen nicht über ihre eigenen stellt, war man in diesem Fall bereit, Hilfe zu leisten. Die Umstände, unter denen Agyemans Schwester gestorben war, erregten international Aufmerksamkeit, und mit einem Ansturm der Medien auf einen bis dato unbekannten Pionier wäre weder ihm selbst noch der Army gedient gewesen. Und so wurde Jonah in ein Flugzeug nach Großbritannien gesteckt, wo das Militär ihn beeindruckend geschickt vor der geifernden Presse abschirmte.
Ein beträchtlicher Teil der Zeitungsleserinnen und -leser war davon überzeugt, dass Lieutenant Agyeman überglücklich sein müsste, weil er erstens vorzeitig von seinem Kampfeinsatz zurückkehren durfte und ihm zweitens Reichtümer in Aussicht standen, die seine wildesten Träume überstiegen. In Wirklichkeit wirkte der junge Soldat, den Cormoran Strike zehn Tage nach der Verhaftung des Mörders seiner Schwester im Tottenham traf, beinahe trotzig und schien immer noch unter Schock zu stehen.
Die beiden Männer hatten zu verschiedenen Zeiten das gleiche Leben geführt und den gleichen Tod riskiert. Auch dies war ein Band, das kein Zivilist verstehen konnte, und so sprachen sie eine halbe Stunde lang ausschließlich über die Army.
»Sie waren bei der SIB ?«, fragte Agyeman. »Na klar, wenn dir einer das Leben versauen kann, dann einer von denen.«
Strike lächelte. Er hielt Agyeman nicht für undankbar, auch wenn die Stiche in seinem Arm jedes Mal schmerzhaft zogen, sobald er sein Glas hob.
»Meine Mutter möchte, dass ich ausscheide«, sagte der Soldat. »Sie sagt immer, dann wäre der ganze Mist wenigstens zu irgendwas gut gewesen.«
Es war der erste indirekte Hinweis darauf, dass sie nicht zum Plaudern zusammensaßen und dass Jonah in diesem Moment nicht war, wo er eigentlich sein sollte, bei seinem Regiment und in dem Leben, für das er sich entschieden hatte.
Und dann begann er unvermittelt zu erzählen, als hätte er monatelang auf Strike gewartet: »Sie wusste nicht, dass mein Dad noch ein Kind hatte. Er hat es ihr nie erzählt. Er wusste nicht einmal mit Sicherheit, ob diese Marlene wirklich schwanger gewesen war oder ob sie ihm nur was vorgespielt hatte. Erst kurz vor seinem Tod, als er nur noch ein paar Tage zu leben hatte, hat er sich mir anvertraut. ›Belaste deine Mutter nicht damit‹, hat er gesagt. ›Ich erzähl dir das alles nur, weil ich sterben werde und weil ich nicht weiß,
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