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Der Ruf des Kulanjango

Der Ruf des Kulanjango

Titel: Der Ruf des Kulanjango Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gill Lewis
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SCHOTTLAND

    Iris breitete ihre Flügel über dem Nest aus. An ihren langen Flugfedern perlten die Regentropfen ab und sickerten durch das Knäuel aus Stöcken bis auf die dunklen, nassen Äste. Unter dem Körper des Adlerweibchens lagen die Eier warm und trocken in einem Bett aus Moos und weichen Flaumfedern.
    Als der Sturm gegen den Stamm prallte, knarrten und ächzten alle Fasern des Baumes. Iris spürte die ständig wechselnden Luftströmungen und die mächtige, dumpfe Gewalt des Sturms. Sie litt mit dem Baum, Knochen und Brust taten ihr weh. Sie krallte sich in dem Geflecht aus Stöcken fest und drängte sich noch näher an ihr Gelege.
    Der Fuß war immer noch wund. Die Erinnerung an die Menschen, die sie gehalten hatten, jagte ihr einen Schrecken ein. Sie hatten sie berührt und ihre Flügel aufgespannt. Der Junge hatte ihr tief ins Auge geblickt und sie hatte den Blick erwidertund die eigenartigen Konturen seines Gesichtes in sich aufgenommen.
    Jetzt harrte Iris im Adlerhorst aus, im heulenden Sturm und im stechenden Regen. Das Tal war wieder frei von Menschen. Der Lärm und der Gestank ihrer Maschinen waren längst über den Berghang davongetragen worden.
    Trotzdem blieb ihr der Junge im Gedächtnis, der Junge, der sie gehalten und ihren Schmerz gelindert hatte. Er hatte ihr den Himmel wiedergegeben. Irgendwo tief in ihr drinnen setzte Iris die Landschaften seines Gesichtes in die Muster der Landschaften ihrer Seele, der Berge, des Himmel und der Flüsse.

Kapitel 15
    Ich war froh, als die Sommerferien begannen. Die meiste Zeit würde ich mit Iona am See verbringen. Rob und ich hatten kaum miteinander gesprochen. Ich hatte ihm zwanzig Pfund angeboten für den Fahrradcomputer, der während unseres Kampfes in die Brüche gegangen war, aber er nahm sie nicht an. Er sagte, er hätte seine Zeit lieber nicht damit verschwenden sollen, sich mit einem Loser wie mir zu prügeln. Damit hatte ich auch kein Problem. Aber Euan gegenüber plagte mich ein schlechtes Gewissen. Er fragte mich, ob er wie jeden Sommer an unserem See fischen könne, aber ich wimmelte ihn mit ein paar armseligen Ausreden ab. Ich wollte nicht riskieren, dass irgendjemand die Fischadler entdeckte.
    Also zogen Iona und ich die meisten Tage zu unserem Baumhaus. Dad und Graham hatten den Bau mit Hamishs Hilfe fertiggestellt. Die Wände bestanden aus zusammengenagelten Brettern und Holzplanken und als Dach diente ein Stück Wellblech von einem alten Schweinepferch. Die zugigen Ecken hatten wir mit Sackleinen verstopft und mitErntegarn verschnürt. Neben dem breiten Fenster mit hölzernen Fensterläden hatte Dad zwei Hocker platziert. Von dort aus konnte man den See und die Berge überblicken. Außerdem hatte er ein Regal gebastelt, einen großen Holzpflock in den Raum gestellt, den wir als Tisch nutzten, und ein Magazin zum Aufbewahren unserer Vogelbücher und von Ionas Zeichnungen und Notizheften. Graham tarnte das Schrägdach mit alten Efeuranken und toten Zweigen, sodass es fast unmöglich war, das Baumhaus von außen zu sehen. Es war einfach perfekt.
    Ich zog mich durch die Falltür hoch ins Baumhaus.
    »Hast du an die Reißzwecke gedacht?«, fragte Iona.
    »Ja«, sagte ich. »Noch besser, ich hab Essen mitgebracht. Mum hat uns ein paar Sandwiches gemacht. Wofür brauchst du die Reißzwecke eigentlich?«
    Iona holte mit dem Arm aus. »Wir müssen das Baumhaus ausschmücken«, sagte sie, »damit es unser Heim wird.«
    »Womit denn?«, wollte ich wissen.
    »Ich werd ein paar meiner Skizzen von den Adlern aufhängen. Schau«, meinte sie und reichte mir einen Stapel Zeichnungen. »Da war das Junge noch klein.«
    Ich sah mir das Bild an, das auf den neunzehnten Juni datiert war. Ein schmuddeliges Adlerjunges war zu sehen, das seinen Kopf über den Rand des Horstes streckte. Zu der Zeit war es nur ein paar Wochen alt gewesen. An den Tag erinnerte ich mich ganz genau. Es war das erste Mal, dass wir einen flüchtigen Blick auf das Küken hatten werfenkönnen. Aber wir waren damals auch traurig, weil wir wussten, dass die beiden anderen Eier nicht ausgebrütet worden waren.
    »Ich kann es gar nicht fassen, wie es inzwischen gewachsen ist.« Ich heftete das Bild an die Wand, neben eine spätere Skizze des Adlerjungen, die zeigte, wie es von Iris gefüttert wurde.
    »Und das hab ich heute gemacht.« Iona hielt ein neues Bild in die Höhe, mit dem Datum zweiter August. Darauf war zu sehen, wie der Jungvogel seine Schwingen ausbreitete. Er war jetzt fast so

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