Der Ruf des Kulanjango
hielt ein Foto in der Hand, ein wirklich altes Foto, bräunlich und verblasst. Ich konnte nur einen flüchtigen Blick drauf werfen, aber Ionas Augen glänzten.
»Du wirst es nicht glauben, Callum«, sagte sie und hielt das Foto in die Höhe, »du wirst es wirklich nicht glauben.«
Kapitel 14
»Erstaunlich«, meinte Dad. »Davon hab ich nichts gewusst.«
»Unglaublich!«, rief Hamish.
Ich guckte Iona über die Schulter, auf das verblasste Foto in ihrer Hand. Es war ein Bild von unserem See, datiert 1905. Man sah die Felseninsel und eine Gruppe Bäume, nicht nur Kiefern, auch kleine sturmgebeugte Bäume und Büsche. Aber auf der größten aller Kiefern befand sich unverkennbar ein riesiges Knäuel aus Stöcken. Es handelte sich ganz offensichtlich um einen Horst, viel größer als der, den Iris und ihr Partner gebaut hatten.
»Ich kann nicht glauben, dass wir früher auch schon Fischadler auf unserem Land hatten«, staunte Dad, »vor über hundert Jahren.«
»Das müssen in etwa die letzten gewesen sein«, sagte Hamish. »Die Aufzeichnungen sprechen davon, dass es zwischen circa 1910 und den frühen 1950ern in Schottland überhaupt keine registrierten Nester gab.«
Mum schüttelte den Kopf. »Ich versteh nicht, wie man Adler überhaupt abschießen oder ihre Eier rauben kann.«
»Für Privatsammlungen und für Geld«, erklärte Hamish. »Einige Leute tun das nach Möglichkeit heute noch. Manche vergiften sie, weil sie denken, sie rauben zu viel Fisch.«
»Das ist einfach krank«, sagte Dad.
»Wir müssen unser Nest geheim halten«, warf Iona ein. »Wir alle.«
»Da hast du recht«, bestätigte Hamish. »Es ist wichtig, dass die Leute Fischadler in geschützten Reservaten beobachten können. Aber die einzige Chance, die Population der Adler zu vergrößern, sind Horste wie dieser hier, geheime, verborgene Nester.«
»Tja, ich glaube, unser Großvater wäre sehr stolz auf dich gewesen, Iona.« Graham grinste sie an. »Wir werden dich zum Ehrenmitglied unserer Farm ernennen.«
Nach dem, wie Iona zurücklächelte, hätte man glauben können, Graham habe ihr ein Scheibchen Sonne abgeschnitten und geschenkt.
»Wenn wir schon von Großvätern reden«, sagte Mum. »Ich denke, dein Großvater wird sich schon fragen, wo du bleibst.«
»Ich fahre dich nach Hause«, bot Hamish an. »Ich sollte jetzt eh gehen.«
Mum schickte Iona mit einem Paar dicken Socken auf den Weg und mit einer Fleecejacke, aus der ich herausgewachsen war. Dazu packte sie noch ein halbes Früchtebrot ein. Als Iona es nicht haben wollte, antwortete Mum, Dad könne es nicht mehr essen, er sei schon dick genug. Dad blinzelte Iona zu, während er seinen Bauch tätschelte, und Iona musste lachen.
An diesem Tag hörte es nicht auf zu regnen. Nachdem Iona weg war, ging ich in mein Zimmer und stöberte unter meinem Bett nach einem alten Sammelalbum, das ich einige Jahre zuvor bekommen hatte. Ich hatte damals nur ein paar Monsterkarten eingeklebt. Nun zog ich sie wieder ab und schrieb stattdessen in großen Buchstaben »Die Fischadler auf unserem Land« auf die Anfangsseite.
Vielleicht konnte ich ja für Menschen, die in hundert Jahren leben würden, Aufzeichnungen über die Adler hinterlassen. Und dann schrieb ich in kleineren Buchstaben »Das Tagebuch von Iris«.
Ich loggte mich in meinen Computer ein und tippte den Code ein, den uns Hamish für Iris gegeben hatte. Es war erstaunlich. Auf Google Earth erschien ihre Position exakt auf der Insel in unserem See. 17:00 WEZ. Hamish hatte uns erklärt, WEZ bedeute Westeuropäische Zeit, Londoner Zeit. Er hatte gesagt, Gambia sei in derselben Zeitzone wie wir. Mich fröstelte, als ich aus dem Fenster schaute. Ich wusste, Iris würde auf ihren Eiern sitzen. Und dort gab es keinen Schutz für sie.
Ich wollte ihre Koordinaten ins Album notieren, aber irgendetwas hielt mich davon ab. Ich konnte es einfach nicht tun. Es war, als würde durchs Aufschreiben unser Geheimnis irgendwie gelüftet. Also klebte ich ein paar Fotos ein, die mir Hamish gegeben hatte, und schrieb einfach »17:00 WEZ. Nistplatz, geheimer Ort, Schottland«.
Dann legte ich mich ins Bett, lauschte dem Regen undschloss die Augen. Dabei versuchte ich mir vorzustellen, ich sei selbst hoch oben in diesem Adlerhorst. Ich versuchte mir vorzustellen, wie die Regentropfen an meinem Gefieder abglitten und wie der Horst im Sturm schwankte, der von den regentrunkenen Bergen herunterbrauste.
8. MAI
17:00 WEZ
NISTPLATZ.
GEHEIMER ORT.
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