Der Ruf des Kulanjango
Sonnenaufgang zu betrachten. Wir hatten schon vorher darüber geredet,aber nie richtig ernsthaft. Und jetzt schien es eine Superidee.
»Okay«, beschloss ich, »diesen Samstag, die Wette gilt.«
Iona lächelte. »Du darfst dort aber nicht vorher auftauchen«, sagte sie. »Ich muss bis dahin noch was fertig machen, eine Überraschung.«
»Was?«, wollte ich wissen.
Sie lachte. »Wart einfach ab.«
Ich wollte den Hügel wieder hinunterlaufen, aber Iona rief mich zurück.
»Callum«, sagte sie.
Ich schaute sie an.
»Das war heute das Beste, was ich jemals erlebt hab«, sagte sie. »Alles zusammen.«
Ich grinste sie an. »Los«, brüllte ich, »laufen wir um die Wette!«
Kapitel 17
An jenem Samstag packte ich zwei Schlafsäcke in meinen Rucksack, ein paar Fackeln, eins von Mums Früchtebroten und ein bisschen Knabberzeugs, das ich aus der Küche stibitzt hatte. Mein Plan war, mich mit Iona am Baumhaus zu treffen, zum Abendessen nach Hause zu gehen und mich nach Einbruch der Dunkelheit wieder davonzuschleichen.
»Willst du ausreißen?«, fragte Mum.
Wusste sie was? Ich schaute sie an, aber sie lächelte.
»Du siehst so aus, als wolltest du für ’ne ganze Woche verschwinden«, stellte sie fest.
Ich rutschte um die andere Seite des Küchentisches. »Das sind nur so Sachen für das Baumhaus«, nuschelte ich.
»Also gut, bleib nicht so lange«, sagte Mum. »Es wird regnen. Diese Hitzeperiode wird bald vorbei sein.«
»Bin zum Abendessen zurück«, versprach ich.
Ich kam von der kühlen Küche nach draußen und mich empfing ein Hitzeschwall. Die Luft stand still. Kip und Elsie, die Hofhunde, lagen hechelnd im Schutz der Hundehütten. Als ich den Wasserschlauch aufdrehte und das kühleNass in ihre Näpfe platschen ließ, bissen sie schon in den sprudelnden Wasserstrahl. Die Schafe auf der oberen Weide drückten sich in die Schatten entlang der Steinmauer. Das Gras war braun und trocken und kleine Insekten schwirrten über den Köpfen der Wiesenblumen.
Es war angenehm, dass ich mich auf dem Pfad am See im Schatten der Bäume bewegen konnte.
Ich hatte darüber nachgedacht, was für eine Überraschung Iona für mich bereithalten würde. Wartete sie auf mich? Beobachtete sie mich?
Ich blickte nach oben, zur Falltür. Sie war zu. »Iona?«, rief ich.
Keine Antwort. Ich kletterte die Strickleiter hoch und drückte die Klappe auf, in der Hoffnung, Ionas grinsendes Gesicht vor mir zu sehen. »Iona, ich bin’s«, rief ich noch einmal.
Ich zog meinen Rucksack hoch und schaute mich um. Iona war nicht da, aber auf der Holzwand gegenüber dem Fenster sah ich ihre Überraschung: das große Gemälde eines Adlers, der gerade einen Fisch fing. Das Bild war direkt auf die Bretter gemalt, so detailliert, dass man jede Feder erkennen konnte. Tropfen verschütteter Farbe verzierten den Boden unter dem Gemälde. Es musste ewig gedauert haben, das Bild zu malen.
Ich legte Früchtebrot und Knabberzeugs auf den Tisch und rollte die Schlafsäcke auf dem Boden aus.
»Iona?« Ich hob den Deckel der Sitzbank, um zu sehen,ob sie sich im Magazin versteckt hatte, aber da war sie nicht. Ich lehnte mich aus dem Fenster und schaute den Pfad entlang. Nichts von ihr zu sehen.
Die Wolken waren inzwischen purpurfarben und grau, wie ein dunkler Bluterguss, der sich am Himmel ausbreitete. Über den Bergen im Süden donnerte es. Falls Iona nicht bald hier auftauchte, würde sie klatschnass. Vielleicht hatte sie unsere Verabredung vergessen, aber das war nicht ihre Art.
Ich kletterte die Strickleiter hinunter und ging den Weg zurück, in der Hoffnung, auf Iona zu treffen. Dem Pfad am Fluss folgend traf ich auf das alte Gleis der Erzbahn, das hinunter ins Dorf führte. In einer ausgetrockneten Pfütze lag eine lange, schmutzverkrustete Feder. Ich bückte mich, um sie aufzuheben und an meinem Ärmel zu säubern. Sie war cremeweiß mit breiten, dunkelbraunen Streifen – die Feder eines Fischadlers. Ich verstaute sie in der Cargotasche meiner Shorts. Einzelne dicke Regentropfen schlugen vor meinen Füßen am Boden auf und wirbelten kleine Staubwölkchen in die Luft. Ich schaute zum Himmel. Eine große Wolke rückte über dem Gebirgskamm ins Blickfeld und ihr Schatten verdunkelte den Berghang. Der Donner kam immer näher. Ich begann zu rennen. Der Himmel wurde duster, und als ich die Straße ins Dorf erreicht hatte, ging sogar die Straßenbeleuchtung an.
Am Rand des Dorfes konnte ich Ionas Haus erkennen, ein kleines, gedrungenes Cottage,
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