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Der Ruf des Kulanjango

Der Ruf des Kulanjango

Titel: Der Ruf des Kulanjango Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gill Lewis
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groß wie seine Eltern, und wenn er mit den Flügeln herumflatterte, war kaum mehr Platz im Nest. Seine Federn waren cremefarben und braun gesprenkelt und die Augen leuchteten in einem dunklen, noch nicht gelben Bernsteinton.
    »Sieh mal«, sagte Iona und deutete aus dem Fenster. »Noch ein Flugversuch.«
    Wir saßen da und blickten über den See. Die späte Morgensonne schien auf den Horst. Ich griff in meine Tasche und holte das Fernglas hervor.
    »Ich dachte, du hättest was von Sandwiches erzählt«, sagte Iona. »Ich bin am Verhungern.«
    Ich warf ihr ein Päckchen mit Sandwiches zu, stützte die Ellbogen aufs Fensterbrett und nahm mit dem Fernglas den Adlerhorst ins Visier.
    Der Jungvogel stand am Rand des Horstes, schlug mit seinen mächtigen Flügeln, um den Wind zu prüfen. Er erhobsich aus dem Nest und schwebte knapp darüber. Wir konnten die Ermutigungen hören, die ihm, von einem anderen Baum aus, seine Mutter oder sein Vater zuriefen.
    »Mach schon«, flüsterte Iona.
    Er ließ sich wieder auf den Horst fallen und stand direkt am äußersten Rand. Dann breitete er, als hätte er sich entschieden, die Schwingen aus, stieß sich ab und stürzte in die Tiefe, auf den See zu.
    Ich hielt den Atem an.
    Der Jungadler flatterte heftig mit den Flügeln, fing sich und flog in weitem Bogen über die Bäume. Er kreiste und kreiste mit seinen großen Schwingen über dem Wald, flatter, flatter, flatter, bemüht, sich in der Luft zu halten. Wir beobachteten, wie er versuchte, auf dem dünnen Zweig eines Baumes in der Nähe des Horsts zu landen, aber der Zweig bog sich unter ihm. Er erhob sich wieder und flatterte zum Horst. Mit seinen langen, schlaksigen Beinen schwankte er in der Luft wie ein Hubschrauber in stürmischem Wetter. Die Landung war schlecht geplant, er krachte ins Nest, setzte sich, plusterte sich auf und brachte seine Federn wieder in Ordnung.
    »Fliegen ist die leichtere Übung«, lachte ich. »Das Problem ist die Landung.«
    Iona lächelte. »Zeit für ein neues Bild«, meinte sie, griff in die Truhe und holte die Schachtel mit ihren Malutensilien hervor.
    »Woher hast du all diese Farben?«, fragte ich. Da warenmehr Dosen und Töpfchen, als ich je zuvor bei ihr gesehen hatte.
    »Mrs Wicklow hat den Zeichensaal aufgeräumt und sie mir zum Geburtstag vorbeigebracht«, sagte sie.
    »Ich hab nicht gewusst, dass du Geburtstag hattest«, entgegnete ich.
    »Na ja, er ist nächste Woche«, sagte Iona. »Aber so lange konnte ich mit den Farben nicht warten.«
    Iona suchte sich einen neuen Bogen Papier und begann zu skizzieren.
    Ich warf einen Blick auf das Bild. Erst dachte ich, sie würde den ersten Flug des Jungvogels festhalten, aber stattdessen zeichnete sie Iris auf einem Baum auf der anderen Seite des Sees.
    »Hamish glaubt, dass sie sich bald auf den Weg nach Afrika machen wird«, meinte Iona.
    Ich blickte über den See auf den großen toten Baum, auf dem Iris saß. Ihr Gefieder hob sich hell vor dem Dunkel des Waldes ab.
    »Iris sitzt jetzt immer auf diesem Baum da drüben, oder?«
    »Ich finde, sie sieht traurig aus«, sagte Iona.
    »Sie ist ein Vogel«, entgegnete ich. »Wie kann sie traurig aussehen?«
    Iona zuckte mit den Schultern und arbeitete weiter an ihrem Bild. »Für mich sieht sie so aus«, sagte Iona. »Sie weiß, dass sie nicht bleiben kann, sosehr sie das auch möchte. Siekann es nicht ändern. Sie wird ihr Junges verlassen und davonfliegen.«
    Ich lachte. »Sie wird nicht mal drüber nachdenken.«
    Iona zerknüllte ihr Bild, schleuderte es auf den Boden, stürmte durch die Falltür nach unten und war weg.
    »Iona«, rief ich ihr nach, aber sie war schon zwischen den Bäumen verschwunden.
    Ich holte sie beim Fluss ein. Sie saß zusammengekauert auf einem Stein und stieß ihr Taschenmesser auf irgendetwas in ihrer Hand.
    »Sie wird zurückkommen, Iona«, sagte ich.
    Iona drehte sich um. Tränen flossen ihr über die Wangen. »Wirklich?«
    Das goldene Medaillon lag offen in ihrer Hand und das Foto ihrer Mutter war mit Stichen übersät.
    Ich setzte mich ganz nahe neben sie. »Deine Ma wird zu dir zurückkommen, Iona«, sagte ich.
    Iona klappte das Medaillon zu und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Nein«, murmelte sie und schüttelte den Kopf. »Sie kommt nie mehr zu mir zurück.«

Kapitel 16
    Ich erzählte Mum von Ionas Geburtstag und sie bestand darauf, einen Kuchen zu backen. Ich wollte nicht, dass sie sich zu viele Umstände machte, aber eine Woche später saßen wir alle um

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