Der Ruf des Satyrs
an zu vibrieren. Durchsichtige Nebelstränge bildeten sich, dort, wo eben noch Leere gewesen war. Konzentriert rief sie sich ihre Erinnerung an den Mann aus dem Hain ins Gedächtnis. Die Erinnerung daran, welche Gefühle er in ihr geweckt hatte, die Details seiner äußeren Erscheinung. Er hatte gefährlich und verboten gewirkt, aufregend, attraktiv.
Bleib. Bleib bei mir, heute Nacht.
Sie presste beide Fäuste an ihre Brust, um den sehnlichen Wunsch zu unterdrücken, der in ihr aufstieg, nach etwas, das sie nicht haben konnte. Denn die Wahrheit lautete, dass sie sich danach gesehnt hatte, bei ihm zu bleiben. Auch wenn das mehr als nur töricht gewesen wäre. Auch wenn er ihr Angst eingejagt hatte, mit seiner Fremdartigkeit und seinen Vermutungen bezüglich ihrer Herkunft.
Doch in Wahrheit war sie noch weit fremdartiger als er.
Auf beiden Seiten des Portals bedeutete es für einen Satyr nichts Besonderes, seinen Samen weit und breit unter den Frauen zu verteilen, ob sie nun Menschen oder Feen waren oder irgendeinem anderen der unzähligen Völker der Anderwelt angehörten. Und wenn irgendeiner dieser Verbindungen ein Sohn von Satyrblut entsprang, wurde das allgemein als nicht weiter ungewöhnlich betrachtet. Auch die Geburt einer Tochter löste keine besonderen Kommentare aus, solange sie nur das Blut ihrer Mutter in sich trug. Doch was, wenn aus einer derartigen Verbindung eine andere Art Tochter hervorginge? Eine Tochter, die nur das Blut ihres Satyrvaters, aber keine Spur vom Blut ihrer Mutter in sich trug?
Diese Möglichkeit war schlichtweg ein noch nie da gewesener Fall. In der gesamten Geschichte der Anderwelt hatte in keiner der beiden Welten jemals ein reinblütiger weiblicher Satyr existiert.
Bis zu ihrer Geburt.
Der Mann hatte mit seinen Vermutungen recht gehabt. Sie
war
wie er. Trotz der Tatsache, dass die Existenz einer weiblichen Vertreterin seiner Spezies als unmöglich galt.
Natürlich gab es Hinweise auf derartige Dinge in den uralten Felszeichnungen in den Höhlen. Und es gab Gerüchte. Doch Wissenschaftler und Philosophen der Anderwelt hatten schon vor langer Zeit verkündet, die Möglichkeit der Geburt eines Satyrmädchens wäre absurd. Ein Mythos. Eine Abscheulichkeit, meinten manche gar. Und doch – hier stand sie nun! Und von beiden Welten drohte ihr Gefahr. Einfach nur ihres Blutes wegen.
Neben dem Bettpfosten begann der Nebel, in einem Gewirr aus Magie zu wirbeln und zu tanzen. Sie wiegte sich sanft hin und her, während sie weiter in
sotto voce
ihr Mantra sprach. Mit all ihrem Geschick probierte sie, ein ganz bestimmtes Ebenbild aus dem Nebel zu formen. Schon früher hatte sie ihrer Beschwörung gelegentlich eine Mischung aus den Gesichtszügen verschiedener Männer verliehen, die sie flüchtig im Vorbeigehen wahrgenommen hatte. Doch noch nie hatte ihre Sehnsucht sich so konkret auf einen Mann gerichtet, dass sie versucht hatte, ein präzises Abbild von ihm zu schaffen.
Der wirbelnde Nebel verdichtete sich und nahm Form an. Und dann, geboren aus dem Äther selbst, mitten in ihrem Schlafzimmer, stand da ein Mann. Groß gewachsen und männlich, mit silbernen Augen unter geraden Augenbrauen und Haaren in der Farbe von feuergeschwärztem Holz. Seine geröteten Wangen verrieten Lebenskraft, und sein kräftiges Kinn zeigte den abendlichen Anflug von Bartstoppeln. Es handelte sich um eine Kopie des Mannes aus dem Hain, zumindest soweit sie sich an ihn erinnern konnte.
Doch dieser Mann war kein Mensch. Er war auch kein Satyr. Noch bestand er wirklich aus Fleisch und Blut. Er war ein Wesen ohne eigene Empfindungen. Einer aus den Reihen jener, die den Satyrn seit uralter Zeit dienten. Ein Nebelnymph. Sein einziger Daseinszweck heute Nacht war, zu gehorchen. Ihr zu Diensten zu sein. Mit Tagesanbruch würde er wieder verschwinden.
Sie umrundete ihre Schöpfung und genoss den Anblick seiner muskulösen Erscheinung. Seine Haut war nachgiebig und schimmerte übernatürlich im Licht. Er war einen Kopf größer als sie, mit breiten Schultern, starken Armen und schmalen Hüften. Und er war nackt.
»Ich habe keine Zeit für so etwas, weißt du«, raunte sie ihm zu in dem Wissen, dass er nicht in der Lage war, zu begreifen, was sie sagte. »Ich habe andere, wichtige Geschäfte hier in der Erdenwelt, hier in Rom, zu erledigen.«
Einem empfindungslosen Wesen ihre Geheimnisse anzuvertrauen war töricht, doch es spendete ihr Trost. »Ich suche meinen Vater. Den Mann, der mich zu dem gemacht hat, was
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