Der Ruf des Satyrs
ehrenwertes Leben zu führen.
Bis zum nächsten Monat, wenn wieder ein Vollmond aufging und sie daran erinnerte, was sie haben konnte und was nicht.
Das Türschloss klickte, und Odette trat ein. Auf dem kleinen Silbertablett, das sie trug, standen eine Teetasse mit Teekanne, ein kleiner mit einem Leinentuch bedeckter Korb und ein Mörser mit Stößel. Damit blieb sie neben dem Bett stehen und starrte auf Eva herab. Direkt hinter ihr war der Himmel mit Streifen aus Pink und Orange überzogen, die rasch dem Blau des hellen Tageslichtes wichen.
Eva lächelte und schnupperte genüsslich. »Mmm. Ich rieche Beignets.«
»Die magste schon, seit du
une bebe
warst.« Odette warf ihr einen liebevollen Blick zu und stellte das Tablett auf dem Nachttisch ab. Eva streckte ihre müden Muskeln, ohne dabei den Versuch zu unternehmen, ihre Blöße zu bedecken. Es machte ihr nichts aus, wenn Odette sie so sah, denn diese Frau hatte sie in den letzten zweiundzwanzig Jahren mit aufgezogen, und Eva hütete keine Geheimnisse vor ihr. Bis auf eines.
Schuldbewusst huschten ihre grünen Augen zu ihrer Dienerin und gleich wieder weg. Wenn sie Odette erzählte, was letzte Nacht in dem Hain geschehen war, würde diese sie nur noch mehr mit ihrem Beschützerinstinkt verfolgen und versuchen, ihre Freiheiten zu beschneiden. Nach so vielen Jahren in der Familie war Odette mehr wie eine Tante für sie als eine Dienstmagd oder Erzieherin, und sie hätte keine Bedenken gehabt, Eva großzügig mit Ratschlägen zu versorgen. Aber es war noch zu früh, um den Vorfall analysieren und beurteilen zu lassen. Irgendetwas daran war einfach zu persönlich.
Odette stellte den Korb mit Gebäck neben ihr auf das Bett. Dann wandte sie sich dem Mörser zu, warf ein paar Büschel Kräuter und ein längliches knopfgroßes Samenkorn hinein und begann, alles zusammen zu zerkleinern.
Eva holte einen warmen Beignet aus dem Korb neben ihr. Sie ließ Odette ihre Arbeit machen, während sie daran knabberte, und rollte sich auf den Bauch ans andere Ende des Bettes, so dass die Laken sich um ihre nackten Beine wickelten. Sie zog die schmale Schublade des Nachttisches auf, holte das Tagebuch ihrer Mutter heraus und schlug die Seite auf, die sie suchte. Gestützt auf ihre Ellbogen studierte sie das spinnenartige Gekritzel.
»Wieso lieste wieder das Geschwätz von Fantine?«, fragte Odette und deutete auf das Buch. »Das kannste doch schon auswendig, he?«
Eva zuckte mit den Schultern und fuhr mit einem Finger die Schlinge eines »y« nach. Sie hatte das Buch erst nach dem Tod ihrer Mutter vor vier Monaten gefunden und es seither Dutzende Male gelesen. »Es riecht noch immer nach ihrem Parfüm. Und ich sehe ihre Handschrift so gern. Dann fühle ich mich ihr näher.«
Ihr Blick glitt über die Namensliste, alles Männer. Fantines
innamorati.
Mittlerweile hatte sie den Kreis der Verdächtigen auf drei Kandidaten in der wohlhabenden Gesellschaft hier in Rom einschränken können, basierend auf den Zeiträumen, zu denen ihre Mutter – eine Fee – mit ihnen zusammen gewesen war. Einer von ihnen musste ihr Vater sein.
Doch hier lag das Rätsel. Keiner der Männer auf der Liste trug den Nachnamen Satyr. Und zum Zeitpunkt ihrer Zeugung hatte es keinen Satyr in Rom gegeben. Daraus schloss Eva, dass ihr Vater ein Pseudonym benutzt haben musste. In diesem Fall würde er sich ihr vielleicht nicht als Satyr zu erkennen geben wollen, selbst wenn sie ihn ausfindig machte.
Sie zupfte an der dünnen Goldkette um ihren Nacken und zog sie zwischen ihren Lippen hin und her. »Was für ein Typ Mann lässt eine schöne Frau, die sein Kind erwartet, sitzen, so dass sie sich allein durchschlagen muss?«, grübelte sie.
Odette warf ihr einen unergründlichen Blick zu und fuhr fort, zu mahlen. »’n schlechter. Einer, den de besser nich’ kennst.«
»Ich will ihn ja auch gar nicht kennen. Ich will ihn nur dazu bringen, dass er zugibt, mein Vater zu sein, und dass er erklärt, warum er uns verlassen hat.«
»Sagste«, schalt Odette. »Aber wenn du ihn findest, macht’s das auch nich’ mehr richtig. Glaub bloß nich’, dass er dir dann das Herz öffnet und dich reinlässt! Du bist ’n lediges Kind, und der wird dich nich’ lieben!«
Typisch Odette – sie fand zielsicher den wunden Punkt und legte auch noch den Finger darauf. »Glaub, was du willst, aber es wird mich nicht davon abhalten, nach ihm zu suchen!«
Weil ihre Mutter mit diesem mysteriösen Mann geschlafen hatte, war
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