Der Ruf des Satyrs
sie schwanger geworden. Eva war in einer Vollmondnacht gezeugt worden, denn das war der einzige Zeitpunkt, zu dem ein Satyr eine Frau schwängern konnte. Doch selbst in einer solchen Nacht konnte ein Satyr seinen Samen noch kontrollieren. Daraus ergab sich, dass ihr Vater entweder unverzeihlich achtlos gewesen war, oder er hatte Fantine sein Kind mit Absicht gegeben. Doch erst das, was danach geschehen war, hatte sie wirklich verwirrt. So, wie es auch Fantine verwirrt hatte. Eva fuhr mit ihrer Fingerspitze Fantines Worte nach, die diese vor zweiundzwanzig Jahren geschrieben hatte:
1 . September 1858
Ich bin enceinte! Welche Freude! Mon Ange sagt, er hofft auf eine Tochter. Eine, die aussieht wie ich. Er schickt mich nach Florenz, um dort auf ihn zu warten. Dort werden wir dann heiraten und als Mann und Frau zusammen leben. Odette ist wütend, weil er so unachtsam war, mir ein Kind zu machen, und hat versucht, herauszufinden, wer er ist. Aber er ist mein Geheimnis. Ich werde ihr seinen Namen nicht sagen, obwohl sie ihn ohnehin erfahren wird, wenn er kommt, um mich zu holen. Ich weiß, dass sie enttäuscht von mir ist, denn eigentlich sollte ich mich gut in der menschlichen Gesellschaft verheiraten. Aber mein Liebster ist ganz sicher gut genug, um selbst ihresgleichen zu gefallen.
14 . September 1858
Warum lässt mein Liebling uns hier in Florenz so lange ohne Nachricht? Wann kommt er? Es sind nun schon zwei Wochen, und ich werde langsam besorgt. Und dick.
Ich weiß jetzt, was ich in meinem Leib trage, und möchte ihm die Neuigkeit unbedingt mitteilen. Odette hat es herausgefunden, natürlich. Sie hat schlechte Laune und brummt ständig Verwünschungen auf meinen Liebsten vor sich hin. Denn wie es scheint, hat sein Samen die Oberhand über meinen gewonnen. Dieses Kind, das unserer freudvollen Vereinigung entsprungen ist, wird keine Fee sein wie ich, sondern ein Satyr. So wie er.
Wird er sich darüber freuen? Er hatte sich so sehr eine Tochter gewünscht. Doch ich hoffe, er wird auch mit einem Sohn glücklich sein, denn wenn das Kind mehr Satyr als Fee sein wird, dann kann es ja nur ein Sohn sein.
23 . September 1858
Falls es je einen Zweifel daran gegeben hat, dass mein Kind ein Satyr sein wird, so ist es jetzt ganz sicher. Die Geburt steht unmittelbar bevor, und seit Mon Ange und ich miteinander geschlafen haben, sind nur vier Wochen vergangen. Nur ein Kind seiner Art erfordert eine so kurze Schwangerschaft. Ich gebe zu, ich bin froh darüber, dass diese Zeit der Unbequemlichkeit nur so kurz sein wird. Aber Odette liegt mir ständig in den Ohren damit, dass ich durch das Portal fliehen soll. Und jetzt hat der Anderweltrat eine Eskorte geschickt. Wie es scheint, muss ich, wenn ich keinen Ehemann vorweisen kann, ins Exil gehen. Ich habe einen Brief an Mon Ange geschickt, den dritten, den ich nun schon abgeschickt habe, ohne eine Antwort zu erhalten. Ich bin fett, mittellos und freudlos. Alles scheint so trostlos.
3 . Oktober 1858
Ich habe eine Tochter! Ich bin völlig schockiert. Odette ebenso. Wir wissen nicht, was wir davon halten sollen. Ich habe mich dem Druck gebeugt, und so sind wir nun alle wieder in der Anderwelt. Niemand hier kennt die ganze Wahrheit über das Blut meiner süßen kleinen Evangeline, und wir werden alles tun, was wir können, damit es so bleibt. Ich werde auf sie aufpassen und hoffen, dass mein allerliebster Schatz zu uns kommt. Evangeline wird ihn zu ihrem Schutz brauchen. Ich fürchte um sie, falls irgendjemand je herausfindet, was sie ist.
Doch Fantines »allerliebster Schatz« war nie gekommen, um sie zu holen, noch hatten sie je wieder von ihm gehört. Stattdessen hatten sie auf der anderen Seite des Portals im Exil gelebt, ohne dass es ihnen gelungen wäre, eine Erlaubnis zur Rückkehr zu erhalten oder mit dieser Welt hier in Kontakt zu treten. Der Vertrag von 1850 , der von den Satyrn in der Toskana ausgehandelt worden war, hatte Einwanderungsquoten für den Verkehr zwischen den Welten festgelegt. Doch dann war die Krankheit ausgebrochen und hatte alles verändert. Eine Durchquerung des Portals von der Anderwelt in die Erdenwelt war fast unmöglich geworden, außer zu diplomatischen oder geschäftlichen Zwecken, die vorher vom Anderweltrat genehmigt werden mussten.
Während der folgenden zwei Jahrzehnte war Fantines Hoffnung langsam dahingeschwunden und Verbitterung gewichen. Den Rest ihres Lebens hatte sie der Aufgabe gewidmet, die Wahrheit über Evas Blut
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