Der Ruf des Satyrs
»Was stimmt nicht mit denen, die ich letzte Nacht gesammelt habe? Waren sie zu unreif?«
Odettes fest hochgestecktes Haar bewegte sich nicht, als sie den Kopf schüttelte. »Die Reife is’ kein Problem. Bloß die Bäume, die war’n die falschen.«
»Woher weißt du das?«
»Mach’s einfach! Und beim nächsten Mal gehste nach Fantines Karte.«
Eva streckte verzweifelt die Hände aus. »Ich bin doch der Karte gefolgt! Aber es ist alles so durcheinander. Warum kommst du nächstes Mal nicht mit und hilfst mir, wenn du denkst, es wäre so einfach?«
Odette machte mit dem Zeigefinger schnell ein Zeichen auf ihre Brust, um böse Geister abzuwehren. »Vom Satyr-Land krieg ich ’ne Gänsehaut, wie wenn die Toten an einem vorbeigehen.«
»Und doch sagst du mir, dass ich dorthin gehen soll, trotz deines Aberglaubens.«
»Dir tut der Hain nich’ weh – bist ja eine von
denen.
Diese alten Bäume merken, dass es besser is’, wenn se dir nix tun. Nächste Woche oder so gehste noch mal hin. Muss nich’ heute sein.«
Damit war die Angelegenheit für Odette offenbar erledigt, denn sie begann, das Zimmer aufzuräumen, fest entschlossen, jede Spur von Evas nächtlichen Aktivitäten zu beseitigen. Die Weinflasche, die sich innerhalb eines Monats wieder von selbst füllen würde, wurde zugekorkt und wanderte zusammen mit dem Kelch zurück in den Wandschrank.
Eva rutschte tiefer in ihr Bett, plötzlich müde. Sie nahm den Trank jeden Morgen zu sich, doch nur am Morgen nach Vollmond wurde sie davon schläfrig. Sie öffnete die Augen wieder, als Odette näher kam und ihre Hand nach einem der Seile ausstreckte, die am Kopfende festgebunden waren.
»Lass nur! Ich mache das«, protestierte Eva halbherzig. »Ich möchte dich damit nicht belästigen.« Sie versuchte, aufzustehen, sank jedoch gleich wieder zurück. Sie fühlte sich etwas benommen.
»Ruh dich aus.«
»Ich sollte aufstehen. Ich habe Dinge zu erledigen. Ich muss zurück zum Hain und mehr Oliven holen.« Sie gähnte. »Und ich habe den Mädchen versprochen, die Ruinen mit ihnen zu besichtigen.«
»Mit den kleinen Monstern kannste später noch gehen. Jetzt schläfste!« Odette stopfte die Decken um sie fest, so wie sie es früher getan hatte, als Eva noch ein Kind gewesen war.
»Nenn sie nicht so! Sie sind Waisen, die ihre Mutter wegen der Krankheit verloren haben und von ihren Vätern im Stich gelassen wurden, so wie ich. Sie brauchen und verdienen unsere Güte.«
Mmm-hmm.
Kommentarlos löste Odette die Seile vom Kopfende und schlang sie um ihre Hand. Auch sie würden im Wandschrank verstaut werden, und Eva würde sie bis zum nächsten Vollmond nicht zu Gesicht bekommen.
»Wirklich, ich werde das erledigen«, beharrte Eva wieder. Ihre Lider flatterten, während sie gegen den Schlaf kämpfte.
»Is’ keine Schande,
cara.
Das is’ eben deine Natur«, meinte Odette beschwichtigend.
Eva schüttelte den Kopf, während ihre Augenlider immer schwerer wurden. Sie wusste es besser. Fantine und Odette hatten sie immer geliebt, aber gleichzeitig hatten sie sie für eine Abnormität gehalten. Die Weigerung, über ihre »Natur« zu sprechen, und die strikte Geheimhaltung, auf der sie diesbezüglich bestanden, hatten Eva gelehrt, dass es eben
doch
eine Schande war, zumindest für eine Frau. In der Anderwelt wurden Satyrn, Männer, geehrt, doch sie – der einzige weibliche Satyr – war eben einfach fehlerhaft.
Dennoch hatten sie immer alles für das Vollmond-Ritual arrangiert, damit Eva es möglichst annehmlich hatte. Und auch nach Fantines Tod bot Odette weiterhin in jeder Hinsicht Hilfe und Unterstützung für sie, ungeachtet der Tatsache, dass sie das Volk der Satyrn generell verachtete. Bis Eva wieder erwachte, würden die Zylinder auf dem Nachttisch gereinigt sein und sich wieder an ihrem Platz im Wandschrank befinden. Der Phallus am Fuße des Bettes wäre poliert und wieder in seine ursprüngliche Position zwischen den ins Olivenholz geschnitzten kunstvollen Reben und Weintrauben versetzt.
»Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich tun würde, Detty«, murmelte Eva schläfrig und registrierte dabei kaum, dass sie die Bedienstete bei dem Kosenamen ihrer Kindheit genannt hatte. Zum ersten Vollmond nach Evas achtzehntem Geburtstag war Fantine letztendlich mit dem unwiderlegbaren Beweis konfrontiert gewesen, dass ihre Tochter ein echter weiblicher Satyr war. Damals hatte ein weit in die Ferne schweifender sehnsüchtiger Blick in ihren Augen gelegen. Einer, der
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