Der Ruf des Satyrs
gefiel Eva, dass er Pinot als gleichgestellt behandelte. Manche Männer taten das nicht. »Sevin, Danes Bruder«, stellte er sich vor. »Ich werde dafür sorgen, dass sie nach ihrem Besuch hier sicher nach Hause kommt.«
»Geh nur! Ich komme zurecht«, versicherte sie dem Kobold.
»Na gut.« Ein wenig angeberisch schlenderte Pinot zu seinem jungen Freund hinüber, und Arm in Arm verließen sie den Salon. Was für ein glücklicher Zufall, dass Pinots Beschützerinstinkt durch seine Verliebtheit getrübt war! Wenn Eva jetzt irgendwann auch noch Sevin entschlüpfen konnte, hätte sie ein oder zwei Fragen an Signor Russo zu stellen.
»Sie dürfen sich gern alles ansehen«, schlug Sevin vor und deutete auf den Torbogen zum Hauptsalon. »Es sei denn, Sie sind unduldsam oder leicht zu schockieren, in diesem Falle würde ich davon abraten.«
»Im Hinblick auf Letzteres bin ich nicht sicher, aber Ersteres gehört nicht zu meinen Eigenschaften. Allerdings – muss ich denn nicht Mitglied sein?«, erkundigte sie sich, während sie schon auf den Vorhang zuging. Sogar sie mit ihrem nur schwach ausgeprägten Geruchssinn konnte Hunderte verschiedener Düfte wahrnehmen, die von dem Raum dahinter ausgingen.
»Nicht, wenn Sie mit mir hier sind«, versicherte er ihr. »Falls Sie jedoch vorhaben, wiederzukommen, müssen Sie zuerst unseren Orientierungsprozess durchlaufen. Es gibt Standards und Regeln, an die sich alle zu halten haben. Alle angehenden Mitglieder werden sorgfältig geprüft, bevor sie eine Mitgliedskarte erhalten.«
Eva dachte darüber nach und fragte sich, was diese Prüfung wohl beinhalten mochte und ob Odettes Pülverchen der Untersuchung standhalten würden. Die Vorstellung, irgendwann einmal wieder hierherzukommen, um sinnlichen Leidenschaften zu frönen, war verlockend. Doch gleichzeitig fühlte sie sich bei dem Gedanken daran auch befangen. Würde sie es wagen?
Die beiden kräftigen Wächter am Eingang zum Hauptsalon traten zur Seite, als sie sich näherten. Sevin teilte mit einer Hand den Samtvorhang, und dann waren sie drinnen.
Das Erste, was Eva wahrnahm, war der komplexe atmosphärische Duft von Magie, der den ganzen Saal durchdrang. Und die Kulisse bot ein Fest für die Sinne – luxuriös, vorwiegend in Rot- und Goldtönen. Die vergoldete Kassettendecke bekrönte drei Stockwerke, und an den Wänden des riesigen Saales gab es Balkonlogen mit Sitzgelegenheiten, ähnlich wie in dem
Enclave a Paris Opera House
in der Anderwelt. Massive Kronleuchter, geschmiedet aus wertvollen Metallen, die den Menschen unbekannt waren, hingen so zwischen den Logen, dass diese im Halbschatten lagen, während der Boden, auf dem sie nun standen, in strahlendes Licht getaucht war. In einigen der Logen nahm Eva flüchtige Bewegungen wahr, und sie fragte sich kurz, was ihre Inhaber wohl dort in ihren abgeschiedenen Quartieren taten.
»Kommen Sie.« Sevin nahm ihren Arm, und sie begannen, an der Wand entlang durch den Raum zu gehen. Er schwieg und ließ ihr die Zeit, die sie brauchte, um die Sinneseindrücke zu verarbeiten. Die Wächter in strenger schwarzer Montur ignorierten sie geflissentlich, als sie vorbeikamen. Sie waren an unauffälligen Positionen aufgestellt und sorgten mit wachsamem Blick dafür, dass alles problemlos lief.
Der ausladende Saal wirkte leicht chaotisch. In seiner Mitte befand sich ein Karussell, das sich hypnotisierend langsam drehte. Bunt bemalte und lackierte Drachen, Einhörner und andere Phantasiegeschöpfe bewegten sich im Kreis auf und ab, ohne dass gerade Passagiere auf ihren Rücken saßen, ein etwas gespenstischer Anblick.
Hier und da befanden sich niedrige Podeste, und auf ihnen standen lebensgroße erotische Statuen, manche völlig nackt, manche nur teilweise. Eva nahm an, dass sie aus Stein waren, bis plötzlich alle gleichzeitig wie auf Stichwort ihre Positionen zu den Klängen der leisen Musik veränderten, die von irgendwoher kam. Manche Paare lösten sich dabei voneinander und bildeten neue Paare, während andere allein posierten. Eva erkannte, dass sie lebendig und nur bemalt waren, um die Illusion zu nähren, dass es sich um Marmorskulpturen handelte. Ihre Posen waren unverhohlen lustvoll und dazu bestimmt, anzuregen. Eine Frau hielt in Ekstase den Kopf zurückgeworfen, während ihr Liebhaber seine Lippen auf ihre Brust drückte. Ein Mann liebkoste das Gesicht einer Frau, die zu seinen Füßen kniete und mit den Händen seine Männlichkeit umfasste, während sie liebevoll zu ihm
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