Der Ruf des Satyrs
für Sie sichtbar wurden.«
Fasziniert beobachtete Eva ihre Umgebung, die gewagten Fresken und Mosaiken an Wänden und Böden, die Sofas aus Brokatstoff und den sprudelnden Brunnen, an dem regelmäßig Gäste ihre Getränke nachfüllten. »Was geht hier denn so Geheimes vor? Weiß der Rat davon?«
Sevin nickte. »Er hat es genehmigt. Ich habe dem Rat meine Idee vor fünf Jahren unterbreitet und sie als eine Möglichkeit präsentiert, unseresgleichen hier auf dieser Seite des Portals vor Schwierigkeiten zu bewahren. Die Einwanderer aus der Anderwelt brauchten einen sicheren und abgeschiedenen Ort, wo sie sich versammeln konnten, um sich mit gleichgesinnten Partnern zu unterhalten oder sich lustvollen Dingen hinzugeben. Wenn sie dazu hierherkommen, ist die Gefahr, ungewollt entdeckt zu werden, geringer, als wenn derartige Zusammenkünfte außerhalb dieser Umgebung stattfänden.«
Sevin glaubte also, er hätte eine Zuflucht für alle Geschöpfe der Anderwelt geschaffen. Doch ohne ihre Pulver, das wusste Eva, war sie hier an diesem Ort ebenso gefährdet wie draußen. Denn sobald sie sich ihm und seinen Brüdern als weiblicher Satyr zu erkennen gäbe, böte dieser Ort hier keine Zuflucht mehr für sie. Sie würden sie den Behörden in der Anderwelt übergeben, wenn sie es wüssten. Oder nicht?
»Was ist dort hinten?«, fragte sie und deutete auf einen Vorhang, der ein bogenförmiges Portal verdeckte. Da Signor Russo sich nicht mehr hier aufhielt, folgerte sie, dass er in den nächsten Raum weitergegangen sein musste.
»Der Hauptsalon«, antwortete Sevin bereitwillig. »Dies hier ist lediglich ein Vorzimmer, gedacht für verbales Vorspiel. Manche Gäste kommen nie darüber hinaus. Ihnen genügt es, ein wenig mit Angehörigen ihrer Art zu flirten. Wenn jedoch jemand mehr möchte, dann gibt es dafür den Hauptsalon hinter diesem Vorhang. Aber für den Anfang können Partner hier in diesem Raum Zeit verbringen und Bedingungen vereinbaren, wenn sie das wünschen. Wenn sie danach weitergehen, können sie hier bereits mit Plan und Rolle eintreten, sozusagen.«
»Und wenn jemand ohne einen Partner hierherkommt?«, erkundigte sie sich. Sie warf einen Blick zu Pinot hinüber und war völlig überrascht, ihn eng umschlungen mit seinem Freund zu sehen. Selbstsüchtigerweise hatte sie nie daran gedacht, dass er auch ein Privatleben außerhalb ihres Haushaltes haben könnte.
»Dann kann dies hier als Kulisse dienen, um einen solchen zu treffen, bevor man den Hauptsalon betritt – wie ich auch Dane schon bei zahlreichen Gelegenheiten empfohlen habe.«
»Er ist Mitglied? Oh, natürlich! Immerhin ist er Ihr Bruder«, sinnierte sie, nicht unbedingt glücklich, wenn sie sich Dane hier mit anderen Frauen vorstellte. »Er hätte es mir sagen können.«
Sevin warf ihr einen wissenden Blick zu und zwinkerte. Hatte er sie auf die Probe gestellt, um zu erfahren, wie sie reagierte, wenn er seinen Bruder erwähnte?
»Es könnte seine Heiratsaussichten beeinflussen«, improvisierte sie hastig. »Und meine. Selbst wenn die Umgebung mit Zaubern geschützt ist, was ist mit diesen Leuten?« Sie deutete auf die Geschöpfe im Raum. »Sie werden ihn gesehen haben – und nun auch mich. Das erhöht die Gefahr, dass Klatsch entsteht, der sich als schädlich für unsere Bemühungen erweisen könnte, in die menschliche Gesellschaft einzuheiraten.«
Noch bevor sie geendet hatte, schüttelte Sevin bereits den Kopf. »Hier ist zwar jedermann für jeden anderen sichtbar, doch sobald man diese Räumlichkeiten verlässt, ist niemand in der Lage, sich genau an die Gesichtszüge oder die Identität von irgendjemand anders zu erinnern. Es gibt eine Ausnahme, doch die erfordert eine ausdrückliche Einladung. Das geht so.« Er deutete auf ein Paar, das eng zusammen am anderen Ende des Raumes stand. Die beiden legten jeder kurz die Handflächen über die Augen des jeweils anderen und entfernten sie dann wieder, als würden sie Augenbinden abnehmen. »Jetzt wird keiner von beiden vergessen, was heute Nacht zwischen ihnen geschieht.«
Eva sah hinab und fand Pinot wieder an ihrer Seite. Sein Freund hielt sich nahe der Vordertür auf, als wäre er bereit, zu gehen, und Pinot warf ihm immer wieder sehnsüchtige Blicke zu. »Du möchtest mit ihm gehen?«, vermutete Eva.
»Nein, ich bleibe hier bei dir.« Doch er wirkte hin und her gerissen zwischen seiner Pflicht und der Sehnsucht, sich zu vergnügen.
Sevin bot ihm daraufhin die Hand und schüttelte sie. Es
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