Der Ruf des Satyrs
erste, den Eva traf, aber ganz sicher der größte. An seiner Seite schnüffelte ein dreiköpfiger Wachhund einen langen Moment an ihnen, während sie den Atem anhielten. Evas Verstand raste, als sie versuchte, sich eine plausible Ausrede einfallen zu lassen, die ihnen Zutritt verschaffen könnte. Nur schwierig, wenn man gar nicht wusste, was das hier für ein Ort war!
Doch nachdem der Hund sie nicht verschlang, brummte der Wächter: »Zerberus findet euch annehmbar.«
»Nun gut. Dann …« Eva versuchte, sich um ihn herumzuschlängeln.
»Aber ich nicht.« Der Zyklop versperrte ihr den Weg und beäugte das Paar wie ein riesiger hochnäsiger Butler, der auf Gesindel herabsah. »Wo ist eure Karte?«
Karte? Eva und Pinot tauschten verstohlene Blicke.
»Ich habe sie vergessen«, versuchte Eva es, da sie ja keine Ahnung hatte, wovon er redete.
Das große Auge wurde schmal. »Klingt nicht sehr überzeugend.«
»Wir sind Freunde der drei Barmherzigen Brüder, die vorhin hier reinkamen«, meldete Pinot sich zu Wort.
»Ja! Genau, dort sind sie«, sagte Eva, die Signor Russo hinter dem Zyklopen erspäht hatte. Er und seine Begleiter verschwanden gerade durch einen Vorhang aus rotem Samt am anderen Ende des Raumes. Sie setzte ein, wie sie hoffte, selbstsicheres Lächeln auf, nahm Pinots Hand und versuchte wieder, um den Wächter herum hineinzugehen.
Doch erneut versperrte er ihnen den Weg. »Keine Karte, kein Einlass. Nicht ohne Genehmigung des Chefs.« Während Zerberus allein zurückblieb, um weiter Wache zu stehen, packte der Zyklop mit der einen Hand Eva am Arm und mit der anderen Pinot am Kragen und schob sie beide nach drinnen und durch den Samtvorhang.
Gleich darauf fanden sie sich in einem Raum wieder, der wie ein elegantes Wohnzimmer aussah, in dem kleine Tische und Sofas verstreut standen. Etwa zwei Dutzend Leute hielten sich hier auf und unterhielten sich zwanglos miteinander. Leider waren Signor Russo und seine Begleiter nicht unter ihnen. Niemand sah auf, als sie eintraten, und Eva dämmerte, dass es verpönt zu sein schien, von einer konkreten Person zu viel Notiz zu nehmen. Es lag etwas Unbestimmbares in der Luft, etwas, das Diskretion förderte.
Bevor sie jedoch viel weiter kamen, hielt eine Männerstimme sie auf. »Mademoiselle Delacorte?« Danes Bruder Sevin kam auf sie zu. »Was machen Sie denn hier?«
»Dasselbe könnte ich Sie fragen«, parierte Eva. Er war in schwarze Seide gekleidet, viel förmlicher als bei ihrem letzten Zusammentreffen. Sie war so sehr auf Dane konzentriert gewesen, als sie sich am Morgen in den Ruinen getroffen hatten, dass ihr gar nicht aufgefallen war, wie gut sein Bruder aussah. Er hatte so dunkles Haar wie Dane, volle, sinnliche Lippen, Augen von klarem funkelnden Blau und breite Schultern.
»Ich bin der Eigentümer.« Sevin entließ den Wächter mit einem Winken, grüßte dann Pinot mit einem Nicken und nahm Eva am Arm, um sie beide weiter in den Raum zu führen. Seine Berührung war fest, männlich und selbstsicher, und doch schmolz Eva nicht so dahin wie bei Dane. »Eigentlich kommen Sie früher als im Zeitplan vorgesehen«, erklärte er den beiden. »Nach sechs Monaten Aufenthalt in dieser Welt hätten Sie eine Einladung erhalten.«
»Das hier ist der
Salone di Passione,
nicht wahr?«, erriet Pinot plötzlich. Er klang aufgeregt. Ganz klar, dass er von diesem Ort schon gehört hatte. Er spürte Informationen auf wie ein Bluthund.
Sevin hob einen Mundwinkel zu einem Lächeln und bestätigte so die Vermutung des Kobolds wortlos.
»Was?«, fragte Eva verdutzt.
In diesem Augenblick kam ein junger Mann vorbei und gab Pinot Zeichen, als wollte er ihn mit sich fortziehen. Er war hochgewachsen, schlank und auf jungenhafte Weise anziehend. Eva sah zu Pinot hinab und bemerkte, dass er errötete.
»Er ist ein Freund«, offenbarte Pinot und machte Anstalten, zu gehen. »Ich bin nur einen Moment weg.«
Als er weg war, lenkte Sevin sie auf eine Seite des Raumes, damit sie sich alles in Ruhe anschauen konnte. »Ein Salon der Lüste?«, erkundigte Eva sich. »Was ist das für ein Ort, und warum ist er mir vorher nie aufgefallen?«
»Das Gebäude ist mit Zaubern geschützt, so dass Uneingeweihte es nicht bemerken und das Kommen und Gehen der Besucher nicht zu Nachforschungen führt. Für Nichtmitglieder scheint sich hier lediglich undurchdringliches Gestrüpp zu befinden. Ich kann nur annehmen, dass Ihre Verbindung zu meinem Bruder dazu geführt hat, dass wir vor der Zeit
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