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Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Titel: Der Ruf des weißen Raben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sanna Seven Deers
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Platz finden, an dem Runa ihre letzten Stunden verbracht hat. Du wolltest ihr nahe sein. Hat sich das geändert?«
    »Nein.«
    »Dann gib nicht so schnell auf.« Er strich ihr zärtlich über die Wange und setzte sich neben sie. Dann zog er eine Landkarte aus dem Rucksack hervor, auf der per Hand mehrere Eintragungen vorgenommen worden waren.
    »Lass uns die Informationen, die wir zusammengetragen haben, noch einmal durchgehen«, schlug er vor. »Also, wenn wir davon ausgehen, dass die Wissenschaftler, die wir befragt haben, recht haben, befindet sich das Dorf, in dem Runa Ay’mut und Te’culum getroffen hat und in dem sie den Rest ihres Lebens verbracht hat, mindestens zweihundert Kilometer westlich der jetzigen Küstenlinie und liegt somit heute unerreichbar auf dem Grund des Meeres.«
    Myra nickte nur.
    »Anhand der Entfernungen, die Runa deinen Angaben zufolge auf ihrer letzten Wanderung täglich zurückgelegt hat«, fuhr Chad fort und drückte aufmunternd ihre Hand, »liegt der Ort, an dem sie ihre letzte Ruhestätte gefunden hat, ungefähr zweihundertfünfzig Kilometer vom Dorf entfernt.«
    »Das stimmt.«
    »Die Lage des Dorfes können wir natürlich nicht genau bestimmen«, fügte er hinzu. »Runa erreichte die Küste entlang einer Kette von Inseln. Wir sind uns einig, dass das höchstwahrscheinlich die Aleuten gewesen sind. Von dort aus ist sie landeinwärts gewandert, bis sie auf einer Hochebene, die von riesigen Bergketten umgeben war, auf eine Herde von Wildpferden gestoßen ist. Die Chilcotin-Indianer erzählen, dass Wildpferde seit Urzeiten in ihrem Stammesgebiet leben. Dieser Indianerstamm fühlt sich seit jeher stark mit den Wildpferden verbunden. Sie besaßen schon Reitpferde, als die ersten Weißen in ihr Gebiet kamen und damit rechneten, dass die Indianer über ihre mitgebrachten Pferde staunen würden. Das passt zusammen.« Er machte eine kurze Pause und studierte die Karte. »Dann führte Runas Reise entlang eines großen Flusses, hinaus aus der Hochebene und bis zu einer Stelle, wo das Gelände sehr unwegsam wurde. Bei dem Fluss kann es sich nur um den Fraser handeln. Und das unwegsame Gelände kann sehr gut diese Stelle hier sein.« Er deutete mit dem Finger auf die Karte. »Sieh her. Hier führt ein enges Tal durch die Berge gen Westen, genau wie du es beschrieben hast.«
    »Den Wasserfall und den großen Fluss, an dem das Dorf lag, können wir natürlich heute nicht mehr wiederfinden«, seufzte Myra, »denn die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Küstenlinie sich während der vergangenen Jahrtausende um mehrere hundert Kilometer nach Osten verschoben hat. Aber wir wissen, in welche Richtung Runa gewandert ist und wie lange ihre Wanderung gedauert hat, und beides bringt uns ungefähr an diesen Ort.« Sie deutete auf eine Stelle im Pazifik. »Ich weiß, dass unsere Annahmen durchaus einen Sinn ergeben, Chad. Aber das bringt uns unserem Ziel nicht näher …«
    »Sag mir noch einmal, in welche Richtung Runa gegangen ist, als sie das Dorf verlassen hat«, forderte Chad sie auf.
    »Zuerst … Aber das liegt nun alles unter Wasser … Immer gen Osten, aber nicht auf demselben Weg, auf dem sie ins Dorf gekommen ist. Mehr nördlich.«
    »Nordöstlich also, ungefähr zweihundertfünfzig Kilometer«, grübelte Chad und starrte auf die Karte. Dann deutete er auf einen Punkt, der mit rotem Filzstift eingekreist war. »Ungefähr dorthin, wo wir uns jetzt befinden.«
    »Gib es zu, Chad, es kann überall sein! Und ich kann den Weg niemals anhand einer Landkarte finden!« Myra ließ die Schultern hängen.
    »Ich habe angenommen, du würdest den Weg wiedererkennen«, warf Chad ein.
    »Ich auch«, gab Myra mit leiser Stimme zu. »Aber Runa stand hoch oben auf der Spitze eines Berges, als sie sich umsah und die Einzelheiten der Landschaft in sich aufnahm. Wir dagegen sind mitten in einem Wald, in dem man keine zwanzig Schritte weit sehen
kann.«
    Der Schrei eines großen Vogels durchbrach die Stille. Myra blickte auf. Sie entdeckte ihn schließlich hoch über den Wipfeln der Bäume, wo er majestätisch seine Kreise zog. Immer wieder ertönten seine verlorenen Schreie durch die Wildnis.
    Plötzlich weiteten sich Myras Augen.
    »Wie konnte ich nur so dumm sein!«, stieß sie aus. »Als Runa ihre Reise zu den Ahnen antrat, sah ich einen winzigen Augenblick lang einen riesigen schwarzen Vogel von der Spitze des Berges fliegen – und Runas Platz war leer.« Sie sprang auf und sah Chad aufgeregt an.

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