Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
»Der Vogel dort oben weiß, welchen Ort wir suchen! Er sieht die Welt von oben, so wie Runa es von ihrer letzten Ruhestätte aus getan hat. Er will uns den Weg zeigen!«
Myra schulterte ihren Rucksack. »Komm!«, forderte sie Chad ungeduldig auf und zog ihn am Arm.
»Vielleicht ist es besser, wenn du allein weitergehst«, überlegte er und warf ihr einen vielsagenden Blick
zu.
Myra sah ihn überrascht an. »Unsere Leben sind auf wundersame Weise miteinander verbunden – und unsere Seelen auch. Du bist ein Teil von mir, mehr als jeder andere Mensch auf dieser Welt. Du musst unbedingt mitkommen.«
Chad lächelte sie zärtlich an und drückte liebevoll ihre Hand.
»Also gut«, sagte er. »Lass uns die Suche gemeinsam beenden.«
Myra und Chad bahnten sich ihren Weg durch das dichte Unterholz, die Blicke immer wieder nach oben gerichtet, um den Vogel, dem sie folgten und den sie nur ab und zu durch die dichten Zweige der Zedern und Fichten erspähen konnten, nicht aus den Augen zu verlieren.
»Der Vogel, ist es ein Adler?«, fragte Myra.
»Nein«, antwortete Chad. »Ein Adler ist es auf keinen Fall.« Dann fügte er murmelnd hinzu: »Er sieht eher aus wie ein Rabe. Aber ich habe noch nie einen so riesigen Raben gesehen …«
Er ging weiter, den Blick noch immer auf den Vogel gerichtet, der über ihnen kreiste, und stieß gegen Myra, die unerwartet stehen geblieben war.
»Dies ist der Berghang, den Runa hinaufgeklettert ist!«, rief Myra aufgeregt und zeigte nach oben.
Chads Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm. Der dichte Wald gab unvermittelt den Blick auf ein steiles Felsmassiv frei, das sich direkt vor ihnen aus der Wildnis erhob.
»Das wird kein leichter Aufstieg werden«, sagte er. »Und es wird einige Stunden dauern, bis wir die Spitze erreicht haben.«
»Ist es für heute schon zu spät?«, fragte Myra gespannt.
Chad schüttelte lächelnd den Kopf.
»Keine Angst, wir werden, wenn alles gutgeht, am späten Nachmittag oben sein.«
Wieder klang der Schrei des Vogels durch die Wildnis. Myra blickte zu ihm hoch.
»Danke, dass du uns den Weg gezeigt hast!«
Einige Stunden später, nach einem ermüdenden Aufstieg in der heißen Nachmittagssonne, erreichten Myra und Chad den Gipfel des Felsmassivs.
Erschöpft nahm Myra den Rucksack ab. Sie schirmte ihre Augen mit der Hand vor der tiefstehenden Sonne und blickte mit wild klopfendem Herzen auf die Schönheit der Wildnis, die sich vor ihr ausbreitete.
»Dies ist die Stelle, an der Runa gestanden hat. Hier hat sie sich alle Einzelheiten der Umgebung eingeprägt – für mich«, flüsterte sie unter Tränen und ergriff Chads Hand. »Ich bin mir sicher.« Sie sah sich um. »Schau, dort, in der Ferne, erkennt man den großen Fluss. Und dort drüben ziehen sich die Bergketten bis zum Horizont. Und alles ist umgeben von unendlichen Wäldern – obwohl die Bäume heute viel, viel kleiner sind als damals«, fügte sie seufzend hinzu.
Sie ließen sich auf dem felsigen Boden nieder und blickten schweigend über das Land. Myras Herz krampfte sich zusammen, als sie an die letzten Stunden dachte, die Runa einsam hier oben verbracht hatte. Es kam Myra vor, als sei es erst gestern gewesen, so frisch war der Schmerz des Verlustes. Doch in Wirklichkeit waren unzählige Generationen gekommen und gegangen, seit Runas Herz aufgehört hatte zu schlagen.
Der große schwarze Vogel näherte sich und ließ seinen Schrei über den Wäldern erschallen. Er zog seine Kreise nun direkt über Myra und Chad.
Chad musterte das Tier.
»Es ist ein riesiger Rabe«, stieß er überrascht aus.
»Ein Rabe?« Myra hob den Kopf und starrte das Tier an. »Runa!«, hauchte sie. Dann rief sie mit lauter, freudiger Stimme: »Sei gegrüßt, Runa! Alles ist in Ordnung! Der Talisman ist und bleibt in Sicherheit!«
Der Rabe sauste nieder, flog dicht über ihre Köpfe hinweg und schwang sich danach in die Höhe. Myra und Chad beobachteten, wie der Vogel noch einmal seine großen Kreise am Himmel zog. Dann war er plötzlich entschwunden.
Myra blinzelte. Nichts. Wohin war der Rabe so schnell verschwunden?
»Warte einen Augenblick«, sagte sie zu Chad. »Es gibt etwas, das ich gern tun würde. Es wird nicht lange dauern.«
Myra stand auf und sah sich sorgfältig um. Dann ging sie zielstrebig auf eine Gruppe von Felsen zu.
Sie fand die schmale Öffnung in der Felswand sofort. Ehrfürchtig betrat sie die kleine Höhle, die sich dahinter öffnete. Die feuchtkühle Luft im Inneren kam ihr
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