Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
sammeln. Es ist eine delikate Angelegenheit, aber da Sie Journalistin sind, dürften Sie sich damit bestens auskennen. Außerdem haben Sie exzellente Referenzen.«
Myra sah den Mann ungläubig an. Sie hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber nicht damit. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Simon Morris redete so glatt und so geschickt, und seine Manieren waren diesmal tadellos. Seine Worte passten zu seinem aalglatten Aussehen, von den zurückgekämmten leicht gewellten schwarzen Haaren über den dunklen, edel aussehenden Anzug bis hin zu den blank geputzten schwarzen Lederschuhen und der kleinen Aktentasche, die er unter dem Arm trug. Welch ein Kontrast zu Chad, der zum Bergsteigen feste, grobe Schuhe mit dicker Sohle angezogen hatte und alte Jeans und ein Sweatshirt trug. Seine langen dunklen Haare wehten in der leichten Brise.
»Woher wissen Sie das alles?«, fragte sie skeptisch.
»Ich habe meine Verbindungen«, erwiderte Morris nur.
»Vielleicht sollten wir hineingehen und die Einzelheiten dort besprechen«, schlug Morris vor, nachdem Myra nichts mehr sagte.
»Das wird nicht nötig sein«, mischte Chad sich ein.
Morris warf ihm einen missbilligenden Blick zu.
»Also gut«, begann er schließlich. »Bei Dominor, der Firma, die ich repräsentiere, handelt es sich um eine Rechtsanwaltskanzlei, die sich im Moment hauptsächlich damit beschäftigt, verschiedene Bodenproben auszuwerten von bestimmten Gebieten, die früher einmal als Sondermülldeponien genutzt wurden, heute aber Wohnsiedlungen sind. Ich arbeite als wissenschaftlicher Assistent und leite die Auswertungen. Unsere Klienten sind die Eigentümer der Häuser, die in diesen Gebieten gebaut worden sind. Sie klagen über verschiedene Krankheiten, und jetzt wollen sie die Firma, die ihnen die Grundstücke vor einigen Jahren ohne Hinweis auf die Bodenbelastungen verkauft hat, zur Rechenschaft ziehen. Die Aufgabe von Dominor ist es, Fakten zusammenzutragen und zu prüfen, ob wir der Firma ein Verschulden nachweisen können. Hier würden Sie ins Spiel kommen. Als Journalistin wären Sie genau die Person, die in unserem Team noch fehlt.« Er schenkte ihr ein geschäftsmäßiges Lächeln.
Myras Gedanken wirbelten durcheinander. Der Mensch und der unangenehme Geruch, der von ihm ausging, verursachten ihr Kopfschmerzen und Übelkeit, und Morris’ freundlicher, doch gleichzeitig aufdringlicher Ton gefiel ihr nicht. Was wollte er wirklich von ihr? Zu ihrem unguten Gefühl kam das Wissen über Morris, das sie als ihr älteres Ich in Heathers Haus gesammelt hatte. Sie musste sein Angebot ablehnen! Aber nicht direkt, sie musste vorsichtig sein.
»Ich werde über Ihr Angebot nachdenken«, meinte sie daher nur, »und Sie in ein paar Tagen anrufen.«
Das freundliche Lächeln verschwand von Morris’ Gesicht. Langsam zog er eine Visitenkarte aus der Brusttasche seines Jacketts und hielt sie Myra demonstrativ hin, als sollten sie und Chad den auffälligen Ring mit einem großen, in Gold gefassten blauen Edelstein entdecken, den er am Ringfinger trug.
»Es wäre ein Fehler, den Job abzulehnen«, betonte er nachdrücklich.
Nun veränderte sich auch Myras Gesichtsausdruck.
»Wirklich?« Sie klang verärgert, griff aber trotzdem nach der Visitenkarte.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte Morris sich um und ging zu seinem Wagen zurück, einem schwarzen Chrysler, den er ein Stück die Straße hinunter geparkt hatte.
Myra starrte wütend hinter ihm her und warf die Visitenkarte mit Nachdruck in den Papierkorb, der sich vor dem Haus befand.
»Die Sache wird immer komplizierter«, meinte Chad, während er die Tür aufschloss und Myra ins Treppenhaus schob.
»Was soll ich tun?«, fragte sie. »Der Mensch hat mir gerade eben gedroht, und das mit dem freundlichsten Gesichtsausdruck!«
Die Treppenhaustür fiel hinter ihnen ins Schloss.
»Es gibt nur eine Sache, die du tun kannst.«
K APITEL 8
Schatten
A m nächsten Morgen wachte Myra mit dem Gefühl auf, dass der bevorstehende Tag ungemütlich werden würde. Dieses Gefühl war so stark, dass sie sich nicht wie sonst immer über den neuen Morgen freuen konnte oder darüber, dass sie auch diesen Tag wieder mit Chad Blue Knife beginnen durfte.
Chad … Obwohl Myra ihn gerade erst kennengelernt hatte, spürte sie eine starke Verbindung zu ihm, die weit über eine rein körperliche Anziehung hinausging. Sie konnte es sich selbst nicht erklären. Wieder musste sie an Heathers warnende Worte denken, aber
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