Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
gleichzeitig auch an das Gefühl der Vertrautheit, das sie mit Chad in der Zukunft verband und das sich in der Gegenwart immer schwieriger wegschieben ließ.
Myra ließ den Blick über das Chaos in Chads Wohnzimmer gleiten. Da sie nicht wusste, wo sie übernachten sollte, hatte Chad ihr angeboten, auf der Couch in seinem unaufgeräumten Wohnzimmer zu schlafen. Nur zu gern hatte sie zugestimmt! Die Begegnung mit Simon Morris und seine indirekte Drohung hatten ihr zu schaffen gemacht, und sie war umsichtig genug, das nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Chad hatte ihre Gedanken erraten und alles getan, um ihr Herz leichter zu machen. Myra sah sein markantes Gesicht vor ihrem geistigen Auge und seufzte. Es könnte ihr so leichtfallen, sich in ihn zu verlieben – aber es durfte nicht sein. Nicht jetzt. Später vielleicht, wenn die Dinge anders lagen.
Jetzt hatte erst einmal die Wirklichkeit Myra eingeholt. Was würde dieser Tag ihr bringen? Sie wusste, eine Sache konnte sie nicht aufschieben: Sie musste Morris’ Angebot ablehnen. Der Mann war ihr unheimlich, und sie konnte es sich nicht vorstellen, in seiner Nähe zu arbeiten. Außerdem wollte sie an diesem Morgen endlich ihr eigenes Auto abholen, das noch immer auf dem Parkplatz am Thunder Mountain stand.
Nach einem kurzen Frühstück machten Myra und Chad sich dann auch bald auf den Weg. Es war ein schöner Morgen. Ein paar Wolken zogen am Himmel, und es war abzusehen, dass es warm werden würde. Da Chad fuhr, nutzte Myra die Zeit, um ihren Gedanken nachzuhängen. Versonnen blickte sie aus dem Fenster und spürte für eine kurze Weile die unbeschwerte Freude, die sie sonst immer zu Beginn des Sommers empfand. Die großen Zedern, Kiefern und Fichten zogen als dichter Wald am Fenster vorbei, und die wilden Rhododendren blühten in zarten Weiß- und Rosatönen. Myra hatte das Gefühl, als könne sie deren Duft sogar im Auto wahrnehmen. Sie hatte so viele Sommer in dieser wilden Landschaft verbracht, dass sie selbst ein Teil von ihr zu sein schien.
Sie war so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass sie nicht bemerkte, wie Chad sie beim Fahren immer wieder fragend ansah.
»Morris sah gestern, als er mir das Jobangebot gemacht hat, keinen Tag jünger aus als an dem Abend, an dem ich ihm als mein älteres Ich bei Heather begegnet bin«, sagte sie unvermittelt und wandte sich zu Chad. Ihre Blicke trafen sich, und Myra fürchtete, sie könnte sich in diesem Blick verlieren. Doch sie riss sich zusammen.
»Ich verstehe nicht, wie Morris das schafft. Warum scheint er in der Zukunft genauso alt zu sein wie in unserem Jetzt ? Was kann das bedeuten?«
Doch bevor Chad ihr antworten konnte, spürte sie auf einmal ein seltsames Ziehen in ihrem Körper. Irgendetwas an diesem Gefühl stimmte nicht!
Dann fiel es ihr ein: Sie sollte nicht auf dem Highway sein, sondern vor den Felssäulen am Thunder Mountain! Myra fühlte sich genauso wie in den Augenblicken, als sie in die Geisterwelt gewechselt war! Erschrocken blickte sie sich um. Aber bevor sie Chad warnen konnte, waren die Felssäulen auch schon zu beiden Seiten der Fahrbahn aufgetaucht. Das Bild verschwamm vor ihren Augen, wieder erschien das Flimmern, und Myra fühlte sich, als würde sie weit fortgezogen – fort von ihrem Selbst und von all ihren Erinnerungen.
Myra war noch auf demselben Highway wie zuvor, nur dass sie nun selbst am Steuer saß und allein im Auto war. Sofort nahm sie den Fuß vom Gaspedal. Sie fühlte sich ein wenig benommen, und in diesem Zustand sollte sie kein Auto steuern!
Aber der Wechsel vollzog sich mehr und mehr, und wenige Augenblicke später war Myra erneut ihr älteres Ich. Mit einem Mal war ihr die Situation vertraut, und sie kannte ihr Ziel. Sie beschleunigte wieder und fuhr weiter über den Highway. Sie war auf dem Weg zum Einkaufen. Chad war in seinem Büro, und Emma würde nach der Schule zu ihrer Freundin gehen. Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. Liebevoll strich sie mit den Fingern über den Rabenanhänger, der an der feinen Silberkette hing, die Chad ihr zu ihrer Hochzeit geschenkt hatte. Die Kette war für Myra ein Symbol der Liebe, die sie mit Chad verband.
Unvermittelt versuchte etwas anderes, sich in ihr Bewusstsein zu drängen, etwas von äußerster Wichtigkeit. Myra überlegte, dann wurde es ihr klar: Es war der Talisman aus Heathers Geschichte, der ihr keine Ruhe ließ! Sie spürte eindringlich, dass der Talisman sehr wichtig, sehr kraftvoll war und –
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