Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
noch gar nicht geschehen.«
»Das ist nicht so einfach in Worte zu fassen«, antwortete Chad nach kurzer Überlegung. »Mein Volk glaubt zum Beispiel nicht an eine strenge Trennung der Zeiten, so wie ihr es tut. Heather hat mir gegenüber oft betont, dass die Vergangenheit noch immer andauert und dass die Zukunft längst begonnen hat. Sie hat mir gesagt, ich soll es mir wie einen nie endenden Kreislauf vorstellen. Dass die Zeiten gewissermaßen gleichzeitig ablaufen und dass sie nur durch unsere begrenzte Auffassung von Zeit voneinander getrennt sind.«
»Das ist vollkommen neu für mich«, gab Myra zu. »Und es ist schwer, das wirklich nachzuvollziehen.«
»Du musst es fürs Erste einfach nur akzeptieren«, erwiderte Chad. »Genau wie die Tatsache, dass du dir nicht aussuchen kannst, wo du ankommst, wenn du in die Geisterwelt reist. Du wirst geführt, und zwar aus einem bestimmten Grund. Wir nehmen an, es hat damit zu tun, dass wir mehr über Runa und den Talisman erfahren.«
»Warum sollte ich dann auch in die Zukunft reisen?«, fragte Myra zweifelnd.
»Damit du siehst, gegen wen du antrittst … Ich weiß es nicht.«
Sie waren ein paar Kilometer über die Schotterstraße gefahren, als sie an einer Bergwiese vorbeikamen.
»Halt kurz an, Chad!«, rief Myra plötzlich.
»Was gibt es?« Chad trat auf die Bremse und sah sich suchend um. Er hatte versucht, die Umgebung im Auge zu behalten, besonders die Straße, um zu prüfen, dass niemand ihnen folgte. Hatte er etwas übersehen?
»Sieh dir die Bären an! Eine ganze Familie!«
Chad atmete erleichtert auf. Bären waren keine Bedrohung für ihn.
Myra kurbelte das Fenster hinunter und tauchte in das Naturschauspiel ein. Auf der Bergwiese, durch die ein kleiner Bach floss, tobten zwei Bärenjungen ausgelassen zwischen den Wildblumen umher, während ihre Mutter mit beinahe tadelndem Blick ruhig und gelassen zusah. Die Bärenkinder kannten keine Sorge.
Wie Myra sie beneidete! Wie gern würde auch sie jetzt einfach ungezwungen in der Wildnis umherstreifen und an nichts anderes denken als an das Jetzt, an den Augenblick. Doch ein sorgenfreies Leben gab es für Myra nicht mehr. Verantwortung lastete nun auf ihr, eine große Verantwortung. Sollten die Vermutungen, die Chad und sie über den Talisman angestellt hatten, sich als wahr erweisen, so war die Verantwortung, die plötzlich auf ihren Schultern lag, größer, als sie eigentlich zu tragen vermochte. Würde sie dieser Aufgabe gewachsen sein? Ein anderer Gedanke überkam sie. Oder wurde sie allmählich verrückt?
Chad schien ihre Gedanken zu erraten. Er schenkte ihr ein liebevolles Lächeln und drückte zärtlich ihre Hand.
Myras Unruhe wich sofort, und dankbar erwiderte sie den Händedruck.
Auf der Wiese brummte die Bärenmutter ihren Jungen etwas zu. Der Wind hatte gedreht, und sie hatte das Auto mit den beiden Menschen gewittert. Widerwillig trollten sich die Bärenkinder unter der Aufsicht ihrer Mutter in Richtung Wald.
Myra und Chad hatten das Wohnhaus, in dem sich Chads Apartment befand, erreicht und waren gerade aus dem Wagen gestiegen, als Myra eine Gestalt entdeckte, die sich ihnen mit schnellen Schritten näherte.
»Morris!«, flüsterte sie, und sofort breitete sich ein dumpfes Gefühl in ihrer Magengegend aus.
»Bleib ruhig«, meinte Chad. »Warten wir ab, was er will. Ich habe genug von dem Katz-und-Maus-Spiel!« Er nahm Myra bei der Hand und ging, ohne Morris eines Blickes zu würdigen, auf die Eingangstür des Hauses zu.
Doch bevor sie die Tür erreichten, sprach Morris sie an.
»Entschuldigung! Sind Sie Myra Morgenstern?«, fragte er betont höflich.
Myra lief ein Schauer über den Rücken, als sie seine einschmeichelnde Stimme hörte. Natürlich konnte er nicht wissen, dass er kein Unbekannter für Myra und Chad war. Nur sie beide allein wussten von der Begegnung in der Zukunft.
»Ja, das bin ich«, erwiderte Myra. Sie gab sich Mühe, überrascht zu klingen. Gleichzeitig stieg ihr ein beißender Geruch in die Nase, den sie nicht zuordnen konnte. Wie ein Gemisch aus angebranntem Braten und zu viel Aftershave.
»Ich habe gehört, Sie sind Journalistin und zurzeit ohne Job. Ist das richtig?«
Myra blickte den Mann an, diesmal tatsächlich überrascht. »Das ist richtig.«
»Dann könnte mein Angebot von Interesse für Sie sein«, fuhr Morris ruhig fort. »Mein Name ist Simon Morris, und Dominor, die Firma, für die ich arbeite, würde Sie gern einstellen, damit Sie bestimmte Daten
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