Der Samenbankraub: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)
verkrustete, Aschgrau, das zu mattsilbrigem Grau changierte; Eis, schartig und rissig, verschneit oder stumpfglänzend, bis die Sonne über den schnurgeraden Horizont kletterte, eine glutrote, kraftlose Scheibe, die das arktische Eis in eine riesige, blutige, nur hier und dort aufblitzende Ebene verwandelte, die unvermittelt vor ihnen aufbrach, in Schollen zerfiel, die sich zusammenschoben, zu Bergen türmten, kantig weißes Gebirge, das wieder zerbrach, Eisberge gebar, die tosend ins Meer kalbten, dippten, schaukelnd davondrifteten, auseinandertrieben, eine glitzernde Armada auf dem Weg zu unbekannten Ufern.
Sie glitten mit einem der Eisberge dahin, stiegen, der Ozean weitete sich unter ihnen: von Horizont zu Horizont Wasser, alles bedeckend, träge zuerst, dann immer bewegter; sie sanken wieder zwischen die jetzt haushohen Wellen, trieben mit ihnen einem unbekannten Ziel zu, wurden plötzlich emporgerissen, kurz bevor die gewaltigen Wogen schäumend am Ufer zerbrachen und ihre gischtigen Kronen über den Strand zerstoben, segelten in langen, sanften Kurven über ein ebenso endloses Meer von Bäumen, die der Wind in mächtigen Wellen wogen ließ, über eine Savanne hinweg zu einer Wüste, und wieder Wellen: die grellgelben Dünen der Sahara, schmerzhaft gleißend im prallen Licht, dann überschattet; unsichtbare Wolken färbten den Boden beige, stumpfes Flirren rundum: feinste Tröpfchen, ein immer heftiger werdender Guß, ein Wolkenbruch, das Trommelfeuer der Tropfen zerschoß den Sand in Tausende und aber Tausende winzige Krater; dann das Wunder der ergrünenden, aufblühenden Wüste, im Zeitraffer hervorschießende grüne Speerspitzen, eine Explosion von Pflanzen, die überall aus dem Boden sprossen, sich reckten, ihre Blätter entfalteten, Knospen bildeten, sprengten, Blüten in die Luft platzen ließen; ein Blumenfeuerwerk, eine Sinfonie von Farben und Formen, Bewegungen und Tönen; betäubender Duft zog durch das Zimmer. Sie schmiegten sich aneinander, umklammerten sich, verschmolzen, vergaßen die wundervolle Blumenwelt um sich und versanken in die Wunderwelt der Sinnlichkeit.
Dann lagen sie lange still. Miteinander verwachsen. Lichtgraue Nebelschleier wogten auf den Bildschirmen. Leise prasselten Regentröpfchen an ein imaginäres Fenster, und es duftete nach Lindenblüten.
»Bist du auch so glücklich?« flüsterte Timothy.
»Ja, unbeschreiblich. Und – hungrig. Liebe macht mich entsetzlich hungrig, Tiny.«
»Da ich dich schon ein wenig kenne«, sagte Timothy schmunzelnd, »habe ich ein schnelles Nachtmahl vorbereitet: geschmorter Sauerampfer mit rohem Schinken und Kroketten aus Maispüree.«
»Du bist ein großer Künstler«, erklärte Anne beim Nachtisch, einer Zitronencreme, die Timothy mit einem Filigran aus Schlagsahne verziert hatte. »Und nicht nur als Koch und Liebhaber. Wirklich schade, daß du es nicht als Maler oder Musiker versuchst. Welch eine Verschwendung von Talent.«
»Ich glaube nicht, daß ich Talent zum Künstler habe«, sagte Timothy. »Im Grunde bin ich ein nüchterner Realist.«
»Du? Du hast viel zuviel Phantasie!«
»Ohne Phantasie kann man kein Realist sein. Nur mit Logik und Fakten ist die Welt nicht zu erkennen. Fakten sind mehrdeutig, und die Logik ist immer darauf aus, uns mit einem wohlfeilen Kurzschluß zu betrügen. Unsere Sinne noch mehr. Kunststück, sie stammen ja aus der Urzeit, sind gut genug für ein Leben als Tier, aber ziemlich ungeeignet und äußerst trügerisch in den Dschungeln der Zivilisation. Es bedarf schon der verschlungenen, listigen, übermütigen Seitensprünge der Phantasie, um die Realität zu durchschauen und in ihr zu überleben. Und der Kunst der Verstellung! Ach, Anne, wenn ich Talent habe, dann zum Schauspieler.« Er lächelte gequält.
»Bin ich nicht ein geradezu genialer Schauspieler? Tag für Tag spiele ich meine Rollen. Mehrere gleichzeitig! Wann darf ich sein, was ich wirklich bin: kein Superdetektiv, kein gieriger Fährtenhund, kein revolutionärer Verschwörer, kein listenreicher Kundschafter – nein, ein harmloser, argloser, freundlicher älterer Mann, der das Gute will und das Schöne liebt; warum darf ich, mit Ausnahme dieser kostbaren Stunden mit dir, nie ich selbst sein? Aber vielleicht ist Timothy Truckle längst unauffindbar hinter den vielen Fassaden seines Lebens verschwunden.«
»Ich denke vielmehr, daß du deine Lebensaufgabe gefunden hast, das unverwechselbar Eigene.«
»Wenn ich in den Spiegel blicke, erschrecke
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