Der Samenbankraub: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)
ich manchmal und frage: Wer bist du eigentlich?«
»Ein guter Mensch, Tiny. Ist das nichts?«
Timothy lachte bitter auf. »Welch eine Welt, in der die guten Menschen so aussehen! Unaufhörlich muß ich lügen und betrügen, selbst meinen einzigen Freund – gibt es denn noch einen Paragraphen im Strafgesetz, den ich nicht übertreten habe? Diebstahl, Einbruch, Betrug, Nötigung, Erpressung, Kidnapping – nein, Kidnapping noch nicht.«
»Aber für eine gute Sache, Tiny!«
»Daß man mit solchen Waffen kämpfen muß!« rief Timothy. »Anne, ich habe oft Angst, daß wir unseren Gegnern zu ähnlich werden und daß man uns eines Tages kaum noch unterscheiden kann. Mit diesen Händen habe ich getötet, direkt und indirekt, und nicht nur einmal. Ekelt es dich nicht vor meinen Händen?«
»Man kann nicht das Gute verwirklichen wollen und zugleich ein guter Mensch sein; das eine schließt das andere aus.«
»Bin ich ein Gott, daß ich mir anmaßen darf, die einen zu retten und die anderen zu vernichten? Wie oft aber stehe ich vor solch einer Entscheidung ... Wie selten kann ich es mir leisten, einfach anständig zu sein, denn mein Anstand ist die beste und billigste Waffe, die meine Feinde gegen mich haben. Warum muß ich unaufhörlich hassen, wo ich doch nichts als lieben möchte? Warum werfen wir nicht alles hin und verkriechen uns, Anne? Lieben uns, bis ans Ende unserer Tage, wie es in der Bibel heißt. Nicht ›Do or die‹ sollte unsere Losung sein, sondern ›Live to love‹! 44 Wir aber zittern vor dem Augenblick, da du fort mußt. Vielleicht für immer. Ich will, daß wir uns nie mehr trennen, verstehst du? Nie mehr!«
»Das will ich doch auch.« Anne nahm seine Hände und streichelte sie. »Bestimmt findet sich ein Weg. Aber nicht durch Fahnenflucht. Könnten wir glücklich werden, wenn wir davonliefen, Tiny? Hör zu: ›Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt?« Anne schloß die Augen und konzentrierte sich. » ›Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut / In der wir untergegangen sind / Gedenket / Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht / Auch der finsteren Zeit / Der ihr entronnen seid – / Auch der Haß gegen die Niedrigkeit / Verzerrt die Züge – / Auch der Zorn über das Unrecht / Macht die Stimmen heiser. Ach, wir / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / Konnten selbst nicht freundlich sein / Ihr aber, wenn es soweit sein wird / Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist / Gedenket unser / Mit Nachsicht.‹ Das hat vor über hundert Jahren ein deutscher Dichter geschrieben, Brecht.«
Sie saßen schweigend, bis Timothy aufstand, das Geschirr abzuräumen. »Du kennst offensichtlich viel von deutschen Dichtern«, meinte er.
»Von meiner Großmutter, sie ist drüben aufgewachsen. Ihr verdanke ich, daß ich so vieles lesen durfte, daß ich die Literatur lieben lernte.«
»Eine gefährliche Liebschaft.«
»Ach, nicht in diesen Familien!«
»Ich vergesse immer wieder, daß du aus dem DuMont-Clan stammst. Daß eine wie du ein Bruder wurde –«
»Ich finde es seltsam, daß nicht viel mehr Kinder der Großen Familien zu Revolutionären werden, nicht nur aus Opposition gegen die herrschende Generation, aus dem Wissen über die wirklichen Dinge; nirgendwo sonst bekommt man so viele Informationen.«
»Ja«, warf Timothy ein, »der Satz ist umkehrbar: ›Wissen ist Macht‹ und ›Macht ist Wissen‹. Trotzdem –«
»Und ich werde es dir nicht verraten«, unterbrach Anne.
»Ich weiß schon«, knurrte Timothy, »miteinander schlafen – gut, aber ja keine Intimitäten.«
6.
»Hörst du mir überhaupt zu?« schrie Smiley. »Ich denke, du wolltest Glover dringend haben?«
»Ich höre ausgezeichnet«, erwiderte Timothy, »du brauchst nicht zu brüllen.«
»Entschuldige. Zu blöd, daß dein Bildgeber gestört ist.«
»Ich rufe zurück, Smiley. Die Sache will gut überlegt sein.« Timothy hatte den Bildgeber ausgeschaltet, damit niemand zufällig Anne sah. Er wartete das Ende des Frühstücks ab, bevor er sie in das Mausoleum bat. Anne sperrte Mund und Augen auf, als er ihr von dem »Laurin« erzählte.
»Und das hast du mir so lange verschwiegen?«
»Du bist nicht mehr mein Großer Bruder«, verteidigte sich Timothy, »den habe ich natürlich sofort informiert.«
»Ich weiß schon«, sagte Anne, »miteinander schlafen ... Ja, du hast recht, Tiny. Warum aber sagst du es mir
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