Der Samenbankraub: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)
an ihre Mutter erinnert? Angie hat dreizehn Kinder geboren, sieben leben noch.«
»Wovon?« rief Timothy. »Gut, sie haben Wasser, aber –«
»Offensichtlich war die Deponie im Bunker noch intakt, dadurch haben sie die ersten Monate überlebt, dann haben die Erwachsenen zusammen mit den älteren Kindern die Häuser systematisch abgesucht; die Räumung erfolgte ja derart abrupt, daß niemand Zeit hatte, die Waren abzutransportieren, und auch in den Nolands gibt es Unmengen von illegalen Vorräten; wir vermuten, daß die Erwachsenen sich dabei den Tod holten. Nun ernähren sich die Engel schon seit Jahren wie in der Steinzeit, von dem, was dort wächst und lebt.«
Timothy ging hinaus und holte eine Flasche Whisky. »Entschuldige«, sagte er, »aber jetzt muß ich einen Schnaps trinken. Meine Phantasie ist zu ausgeprägt. Was lebt dort? Was wächst dort?«
»Gras, Brennesseln, Disteln, Löwenzahn, Krüppeldorn – sie ernten nachts. Um ehrlich zu sein, ich glaube, sie weiden einfach und essen es gleich auf den Trümmerwiesen. Das PARIA ist nämlich nicht tot; nachdem die Säureregen vorbei waren, hat sich ein spezifisches Biotop gebildet. Es gibt Kaninchen, weiße und blaue Mäuse, Ratten – den Fellen nach beängstigend groß, wahrscheinlich Mutationen – und Vögel. Ganze Schwärme von Tauben, Amseln und Staren. Zwischen dem PARIA und der angrenzenden Mülldeponie existiert seit der Aufhebung der Hermetisierung nur noch die Mauer. Ich habe auch Krähenbälge gesehen. Sie haben gelernt, Fallen zu stellen, Schlingen zu legen, mit Pfeil und Bogen zu schießen.«
»Aber die Luftüberwachung müßte sie längst entdeckt haben«, warf Timothy ein, »und dann hätte man etwas davon gehört. Das wäre doch ein Festessen für die Medien!«
»Die Air Branch ist eine militärische Organisation!« Maud lächelte. »Die haben ihren Dienstplan, und den scheinen die Engel ganz genau zu kennen, obwohl sie keine Uhr besitzen. Sie gehen nur in der Dämmerung hinaus und unmittelbar nach den Überwachungsflügen, in der Hoffnung, daß die Besatzungen ein paar Tiere abgeschossen haben. Ich fürchte, sie essen auch Aas.«
»Mitten in Chicago«, stöhnte Timothy. »Und auch –?« Er sah Maud in die Augen. »Ich muß alles wissen, die ganze, schreckliche Wahrheit.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Maud leise. »Ich habe mich nicht getraut, danach zu fragen. Ich kann nur hoffen, daß sie nicht zu Kannibalen geworden sind.«
Timothy goß sein Glas voll. Jetzt wollten auch die beiden Frauen einen Schnaps. Anne unterbrach als erste das Schweigen.
»Gibt es dort Blumen und Früchte?«
»Nein. Die Konzentration von Schwefeldioxid ist zu hoch, als daß Insekten überleben könnten.«
»Und die Kinder, die Neugeborenen?« fragte Timothy.
»Keine Monster. Das meintest du doch? Soweit wir es ausmachen konnten, gibt es sogar verhältnismäßig wenig Mißbildungen und Idioten, vielleicht sterben die früh ... Sie sind allesamt klein und mager; die Nahrung reicht nicht aus, um normales Gewicht und normale Größe zu erreichen, und sie frieren und schwitzen ungewöhnlich schnell durch den Mangel an Energie.«
»Was ist mit Kleidung?« fragte Anne.
»So gut wie nichts.« Maud schüttelte traurig den Kopf. »Sie leben wie die Wilden. Geistig stehen sie wahrscheinlich auf der Stufe der Steinzeit, und körperlich – wir haben bei unserem zweiten Besuch einen Mediziner mitgenommen; wir müssen ja wissen, was für Vorkehrungen zu treffen sind, wenn man sie herausholt, aber sie sind äußerst scheu und lassen kaum einen Fremden an sich heran. Natürlich die klassischen Mangelkrankheiten: Beriberi, Skorbut, Rachitis; sie sehen schlecht, nicht nur durch das Leben im Bunker, auch durch Mangel an Vitamin A, leiden unter Magen- und Darminfektionen und allen nur denkbaren Erkrankungen der Atemwege, kein Wunder, sie sind dem Smog ungeschützt ausgesetzt – aber das ist doch jetzt alles nicht wichtig! Man darf sie nicht den Behörden ausliefern; keiner würde es überleben. Oder nur als Versuchskaninchen in irgendwelchen Institutskäfigen. Sie haben ein Recht auf Leben, es sind Menschen wie wir!« Maud war immer lauter geworden, die letzten Worte schrie sie fast hinaus.
»Da mußt du einen Zwerg nicht belehren«, sagte Timothy hart.
»Entschuldige, aber ich, ich –« Maud brach in Tränen aus. Anne fuhr ihren Sessel neben sie und nahm Maud in den Arm. »Wir werden einen Weg finden«, versprach Timothy. »Aber wie?« Maud blickte ihn verzweifelt an.
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