Der Samenbankraub: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)
Eingeschlossensein mit sich bringen, ohne daß man es merkte, ohne daß man sich dagegen wehren konnte.
Er durfte nicht mehr – und welch ein Luxus war selbst das schon! –, als sich Bilder der Welt in seine vier Wände zu projizieren; Konserven, und er wußte nicht einmal, ob es reale Bilder waren, ob die Meeresstimmungen und Regenstunden, die er so liebte, die Berggipfel, die Sonnenaufgänge über betauten Wiesen, die rauschenden Wälder nicht am Ende irreal waren, künstliche Produkte, Phantasien von Künstlerhand; eine Welt, die es so nie gegeben – nein, das Meer war wirklich, er hatte es mit eigenen Augen gesehen!
Und mochten es Konserven, mochten es künstliche Welten sein, er würde allen in ihnen steckenden Zauber und Reichtum nutzen, all seine Privilegien ausbeuten, um sich mit Anne, für Anne, eine kleine Welt zu schaffen, in der sie, und sei es nur für ein paar Tage, glücklich sein konnten.
Timothy überlegte, wie er den ersten Abend gestalten sollte. Ein Festessen, klar, vielleicht einen Truthahn mit Mandelfüllung, mit Orangen- und Ananasscheiben belegt, oder die Stücke nach Western-Art auf dem Barbecue gegrillt, unter dem weiten Himmel der noch unberührten, von riesigen, friedlichen Büffelherden durchzogenen Prärie? Oder ein Hammel am Spieß in historischer Kulisse? Ob Anne Knoblauch mochte? Wie konnte er den Wohnraum in das Kaminzimmer eines englischen Schlosses verwandeln? Er verwarf den Gedanken. Sollte er Plastkopien benutzen? Echte Möbel waren nicht aufzutreiben oder unerschwinglich. Aber einen richtigen Kamin würde er bauen, das Abgas illegal aus dem Fenster leiten, und Holz mußte sich doch irgendwo auftreiben lassen. Und eine Reise durch das All würde er mit Anne unternehmen.
Timothy besaß zwei Kristalle voll verbotener Bilder aus dem Universum, keine Standaufnahmen: Teleskop-Reisen durch die Sternenwelten. Er lachte bitter. Die Astronomie war wie zu Galileis Zeiten wieder zur Geheimwissenschaft geworden.
Das Flackern des Orangelichts riß ihn aus seinen Träumen. Timothy sprang aus dem Bad und hastete ins Mausoleum, seine Füße hinterließen nasse Tapsen. Es war nicht Anne, die nach ihm rief, sondern Simon.
»Ich möchte zu dir kommen«, sagte er. »Ich muß ein paar Stunden am Computer arbeiten, ist dir das recht?«
»Komm nur. Am besten, du wartest am Lift, bis ich dich hereinwinke, ich werde –«
»Nicht nötig«, unterbrach Simon. »Verlange einen Arzt, einen Milzspezialisten. Ich habe mich erkundigt, es gibt keinen im ›Nebraska‹ außer mir.«
»Bist du wirklich Arzt?«
Simon lächelte. »Kein Kommentar.«
»Okay. Während du arbeitest, koche ich uns was. Hast du ein Lieblingsessen?«
»Leider ein sehr ausgefallenes«, antwortete Simon, »gefüllte Avocados.«
Timothy trieb Avocados auf. Seit Bentley ihn bei CHALLENGERS empfohlen hatte, wurde er dort bevorzugt behandelt. Während Simon bei Napoleon hockte, ihm unaufhörlich neue Nüsse zu knacken gab und nebenbei die Ergebnisse der Recherchen durchsah, bereitete Timothy in der Küche die Früchte vor und eine Füllung aus frischem Gehackten, hart gekochten und rohen Eidottern mit Kapern, Zitronensaft, Olivenöl und Schlagsahne. Als Simon meinte, in einer viertel Stunde könne er Pause machen, wickelte Timothy die Avocados in Folie, legte sie in die Backröhre und setzte den Reis auf. Er servierte im Mausoleum, damit sie sich ungeniert unterhalten konnten.
Simon schnitt eine Avocado an und ließ den Bissen auf der Zunge zergehen. »Exzellent!« rief er. »Welch ein Genuß!«
»Du könntest alle Tage gut essen«, erwiderte Timothy, »das liegt nur an dir.«
»Du bringst mich in Versuchung, Tiny.« Simon schmatzte genüßlich. »Ich fürchte, ich werde tatsächlich meine Prinzipien in den Wind schlagen.«
»Was für Prinzipien?« erkundigte sich Timothy.
»Die des einsamen Jägers: Meide jeden nicht notwendigen Kontakt. – Gib niemandem Einblick in deine Leidenschaften und Eigenarten, schon gar nicht in dein Leben, habe keine Gewohnheiten, laß nie Routine zu: sonst wirst du berechenbar. – Du darfst an niemandem und nichts hängen, schon gar nicht an einem Menschen: das macht dich verletzbar. – Du darfst vor allem nicht am eigenen Leben hängen: das macht dich furchtsam. – Du darfst den Tod jedoch nicht mißachten: das macht dich leichtsinnig. Lebe mit deinem Tod, lebe in kurzen, überschaubaren Intervallen, bedenke, in jeder Sekunde kann es vorbei sein: dann wirst du immer alles mit allen Kräften
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