Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
Vom Netzwerk:
nicht. Er war eingesperrt. Er war misshandelt und entwürdigt worden. Es gab keinen Ausweg.
    Dann aber musterte er das kleine Fenster hoch oben und die Gartenklappstühle in der Ecke, und dabei ging ihm das Bild von zwei Jongleuren durch den Kopf, die er als Kind im Fernsehen gesehen hatte. Der eine balancierte auf einem hohen Turm aus Klappstühlen und bekam von dem anderen ständig neue wirbelnde Messer, Keulen und brennende Fackeln zugeworfen, die er in einem hohen Bogen über seinem Kopf kreisen ließ. Wenn er diese Stühle irgendwie auf der Bank stapeln und hinaufklettern könnte, gelänge es ihm, das Fenster zu erreichen – und wenn er das Fenster erreichte, könnte er herausfinden, was sich dahinter befand und ob vielleicht einer der Gitterstäbe ein klein wenig locker war. Aber warum sollte er locker sein? dachte er, immer noch reglos dasitzend, in sich einen Schmerz von dumpfer Beharrlichkeit. Andererseits, warum nicht? Das alte Gemäuer stand seit Langem leer, es war ein Überbleibsel aus den Zeiten, in denen man Neger in Ketten gelegt und Indianer niedergemetzelt hatte. Und diese Zelle – hier mussten die hakujin ihre Neger festgehalten haben, ehe sie sie hinauszerrten, um sie auszupeitschen, zu lynchen oder zu verbrennen.
    Der Gedanke brachte ihn auf die Beine.
    Einen Augenblick stand er an der Tür – ein schweres Eichenbrett, ohne Ritzen, solide wie ein Felsblock –, dann durchquerte er geräuschlos die Zelle und untersuchte die Gartenstühle. Sie waren zerschlissen und schmutzig, die Gelenke verrostet, dennoch gelang es ihm, sie auseinanderzuklappen. Was dann folgte, ähnelte weniger einem akrobatischen Kunststück als einer gut choreografierten Bauchlandung. Beim ersten Versuch krachte er auf den Steinboden und rammte sich dabei das Steißbein bis fast in den Schädel. Beim zweiten zog er sich eine Zerrung im Knie und eine Ellenbogenprellung zu, außerdem bekam das Alugestell eines der Stühle einen bleibenden Knick. Natürlich verursachte das Lärm – da war der klappernde Applaus der Stühle, wenn sie von der Bank zu Boden fielen, das Klatschen seines schwitzenden Körpers gegen den unnachgiebigen Stein, das leise, gepresste Schnaufen und das qualvolle Keuchen –, aber niemand erschien an der Tür, während er hechelnd und schmerzgekrümmt am Boden lag. Dafür war er zutiefst dankbar.
    Immer wieder stellte er die Stühle aufeinander, balancierte, schwankte, kippte und fiel. Endlich, beim achten Versuch, als die Stühle erneut bockig unter ihm wegrutschten und er die Arme nach oben riss, um wild entschlossen die hohen Gitterstäbe zu packen, bekam er sie zu seinem Erstaunen zu fassen – zwei von ihnen jedenfalls. Einen Augenblick hing er so in der Schwebe, voller Genugtuung, bis die Stäbe nachgaben und er in die Zelle zurückfiel. Im Sturz streifte er die Bank und schürfte sich dabei die Schramme am Schienbein mit solcher Treffsicherheit wieder auf, als hätte er es darauf angelegt. Als er sich aufrappelte, hielt er nach wie vor die rostigen Gitterstäbe in der Hand wie zwei Hanteln. Das Fenster über ihm gähnte wie eine lückenhafte Mundhöhle. Wo eben noch sechs Stäbe gesteckt hatten, waren jetzt nur vier. Noch besser: Er hielt Nummer 2 und 3 in der Hand, und die entstandene Lücke war groß genug, dass er sich problemlos würde hindurchzwängen können. Bei seinem kurzen Blick auf die andere Seite hatte er eine zweite Zelle gesehen, bis auf die Gartenstühle identisch mit seiner eigenen. Wie er so am Gitter hing, zwischen dem Augenblick des Hochschnellens und des Zurückstürzens in einer Wolke aus Staub und Mörtelbrocken schwebend, hatte er eine vertraut wirkende Holzbank, einen Haufen Kehricht und eine schwere, uralte, solide Holztür erkannt, letztere geschlossen und, wie er annehmen musste, ebenso unüberwindlich wie die eigene Zellentür.
    Falls er enttäuscht war, blieb ihm jedenfalls kaum Zeit dafür, denn in diesem Augenblick wurde mit protestierendem Kreischen der Riegel draußen aufgeschoben, und leises Stimmengewirr ließ ihn zusammenfahren. Hektisch sah er sich um. Die kaputten Stühle lagen auf dem Boden herum, das aufgebrochene Fenster starrte anklagend und höchst auffällig herab, und die Gitterstäbe – die Gitterstäbe hielt er ja immer noch in der Hand! Schnell nachdenken! Sagte man das nicht in Amerika? Sie werfen einem eine scharfe Handgranate in den Schoß und sagen: Schnell nachdenken! Hiro jedoch überwand in diesem Moment die Welt des Denkens und gelangte ins

Weitere Kostenlose Bücher