Der Samurai von Savannah
verheerender, jene Sorte Verwüstung, bei der Arbeit von vornherein undenkbar gewesen wäre. So allerdings konnte sie, wenn sie wirklich wollte, wenn es sie überkäme, einfach die Scherben zusammenfegen und sich jederzeit an die Arbeit setzen, ja sie müsste sich nicht einmal darum kümmern, die Fliegenfenster flicken, die Fenster neu verglasen und die Einschusslöcher kitten zu lassen; Owen würde einen Mann schicken.
Nur um etwas zu tun, nahm sie Schaufel und Besen und kehrte die Scherben und Glassplitter zusammen, hie und da auch ein platt gedrücktes Bleiklümpchen, das sich nicht irgendwo in eine Wand gegraben oder sein Ziel sauber durchbohrt und den Weg ins Unendliche weiterverfolgt hatte. Dann warf sie die zerschossene Kannenpflanze über das Verandageländer, fütterte eines der überlebenden Exemplare mit einer toten Schmeißfliege, die sie zwischen den Trümmern auf dem Fensterbrett fand, und setzte sich schließlich an den Schreibtisch – versuchsweise, so als probierte sie nur kurz den Stuhl aus.
Lange starrte sie durch die klaffenden Fenster, dann schob sie den dicken Packen bekrakelter Schreibmaschinenseiten zusammen, der in seiner Gesamtheit »Die Tränen und die Flut« ausmachte, und begrub ihn tief unten in der Schublade. Dort, noch etwas tiefer vergraben, entdeckte sie das Manuskript einer alten, halb fertigen Erzählung, die sie schon immer einmal hatte überarbeiten wollen. Sie trug den Titel »Zwei Zehen«, und das Thema hatte sie ebenfalls aus einer Nachrichtenmeldung entwickelt – es ging um einen Fall, der bundesweit Schlagzeilen gemacht hatte und seinerzeit dem ganzen verschlafenen und selbstverliebten Land unter die Haut gegangen war. Jeder erinnerte sich an die Geschichte von Jessica McClure, dem achtzehn Monate alten Mädchen aus Texas, das in einen Brunnen gefallen und in einem Rohr von kaum dreißig Zentimeter Durchmesser festgeklemmt war; erst nach zweieinhalb Tagen hatte es durch die heldenhaften Anstrengungen von Bergmännern, Feuerwehrleuten, Polizisten und Erweckungspredigern befreit werden können, allerdings um den Preis zweier Zehen des rechten Fußes. Das mit der Zehenamputation war Ruth nicht so recht klar – es hatte wohl mit abgequetschten Gefäßen zu tun; ihre Idee war es jedenfalls gewesen, Jessica als Teenager zu schildern, so mit siebzehn, achtzehn. Sie wäre erwachsen, lebte mit der Erinnerung an jene zwei schrecklichen Tage und der Last ihrer kurzen, verblassenden Berühmtheit, wäre mittlerweile selbstzerstörerisch und hasserfüllt. Würde fixen, saufen, herumhuren. Nie wieder würde sie es in die Nachrichten schaffen, das wäre ihr sonnenklar, ihr Leben bewegte sich spiralförmig abwärts, schon seit dem zarten Alter von anderthalb Jahren. Und was täte sie dann? Sie würde irgendeinen tätowierten Schmierlappen heiraten, fünfzehn Jahre älter als sie und Schlagzeuger in einer Rockabilly-Band, und dann – aber weiter war Ruth nicht gekommen. Und als sie jetzt überflog, was sie bisher geschrieben hatte, als sie ihre Notizen durchging, empfand sie nichts als Verzweiflung. Der Einfall war miserabel. Sie war miserabel. Die ganze elende, muffige, verregnete Welt war miserabel.
Sie erhob sich schwankend vom Schreibtisch und trat auf die Veranda hinaus. Es war erst zehn oder halb elf, obwohl das bei dem verhangenen Himmel schwer zu schätzen war. Sie fragte sich, ob Owen ihr wohl ein Mittagessen bringen würde. Hier hatten sie im Laufe der Jahre ja schon viel erlebt, von Nervenzusammenbrüchen über Faustkämpfe bis zu Herzanfällen und jeder erdenklichen Spielart von Trunkenheit und Ausschweifung – Künstler sind eben Künstler –, aber so etwas hatte es noch nie gegeben. Hiro Tanaka, der japanische Desperado, und La Dershowitz, seine aufopfernde Helferin – nein, das klang nicht richtig, lieber also: Beschützerin. Und dann, glorreich, mit allem Drum und Dran und in Dolby-Stereoton verstärkt, der Angriff der Rassisten! Noch nie zuvor war hier ein Studio zerschossen worden. Zumindest deshalb würden sie Ruth im Gedächtnis behalten – selbst wenn sie kein einziges Wort mehr schriebe. Noch Jahre später würden sie an der Bar lehnen, nach dem Essen den Teller von sich schieben oder am Geselligen Tisch irgendeinen naiven Neuankömmling anschnattern und genüsslich eine ungläubige Miene aufsetzen, wenn einer von ihnen – die jeweilige Bienenkönigin oder der Dschungelfürst – befremdet ausriefe: Nein, wirklich? Du kennst die Geschichte der
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