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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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Abend war jetzt ausgekämmt zu einem dicken Teppich, die Medusententakeln ringelten sich um Irving und Teitelbaum, verwoben sich mit dem Stoff der Couch, boten Deckung für ihre eiskalt glitzernden unmenschlichen Augen. Ganz kurz sah Ruth weite weiße Seidenhosen unter dem haarigen Taifun. Jane war völlig entspannt – sie sah aus, als wäre sie aus einem vorbeifliegenden Jet in die Couch herabgeschwebt. Sie beobachtete Ruth, auf ihren Lippen lag unveränderlich, schmal und perfekt ein verächtliches Lächeln.
    Ruth versuchte sie zu ignorieren, versuchte sie alle zu ignorieren – aber nein, das war falsch. Sie musste warm und sympathisch sein, überströmen vor Kameradschaft und Freude über das Reservoir an Talent, das der Raum beherbergte. Sie zwang sich zu einem Blick in die Runde und lächelte in jedes einzelne Augenpaar. Und dann stand Septima auf, legte die Hände ineinander und sagte ganz schlicht: »Ruth Dershowitz.«
    Ruth erhob sich unter höflichem Beifall, dann setzte sie sich wieder – sie würde nicht stehen, würde sie nicht dominieren, sie weigerte sich hartnäckig, eine Vorstellung zu geben. Dies war die Lektion ihrer Lesung, sie war das Korrektiv, die Rückkehr zur wahren Form, das Beispiel, das Jane Shine ein für alle Mal in ihren Schranken weisen sollte.
    Sie begann mit »Zwei Zehen«, leitete ihre Auswahl mit leiser, kaum modulierter Stimme ein, im Ton einer Unterhaltung unter Gleichgesinnten, leichthin und vertraulich. Während sie sprach, erwärmte sie sich für die Situation. Sie blickte in die Gesichter ihrer Künstlerkollegen und spürte etwas in sich aufsteigen, etwas wie Liebe. Sie beschrieb ihnen die Entstehungsgeschichte der Erzählung – vielleicht in zu viel Einzelheiten, möglicherweise war das ein Fehler –, erzählte ihnen von der kleinen Jessica McClure, an die sich alle erinnerten, von ihrem heldenhaften Säuglingskampf ums Überleben in jenem dunklen Brunnenschacht in Texas, schilderte, wie sie, Ruth, sich auf ihre schlichte, bescheidene Weise daran versucht hatte, die nackten Fakten in Kunst zu verwandeln. Und dann fing sie an zu lesen, legte ihre ganze Kraft und auch das seltsame Schwingen, das in ihr war und aus einer Art Liebe für sie alle bestand, sogar für Jane, in die stille Autorität der menschlichen Stimme – die nackte, unverfremdete, unmodulierte menschliche Stimme.
    Sie begann mit der Passage, in der die kleine Jessica, zu einem aufsässigen Teenager herangewachsen, nicht in der Lage ist, ihr seelenloses Leben in Texas mit dem stundenlangen Höhepunkt zu vereinen, den sie in jenem Freud’schen Tunnel in dunkler Tiefe durchlebt hatte. In dieser Passage gab es Sex, ziemlich viel sogar – hier würde sie Jane Shine über-shinen –, und eine Spielart von heftigem Negativismus, der die Thalamusse und Grobians begeistern musste. Dann las sie ein längeres Stück, in dem das Brunnenschacht-Mädchen, die kleine Heldin der Nation, in eine brutale Ehe mit einem tätowierten Gammler gestoßen wurde, der fünfzehn Jahre älter war als sie. Als sie geendet hatte, sah sie vom Blatt auf und schenkte ihren Zuhörern das spontanste und herzlichste Lächeln ihres ganzen Lebens. Die Sache war nur, sie wirkten nicht eben begeistert – im Gegenteil. Ihre Mienen waren unverbindlich, verschlossen, leblos: der Begriff »betäubt« drängte sich ihr auf. Aber nein, sie interpretierte den Ausdruck falsch – überwältigt waren sie, das war es. Sie hielt ihr Lächeln, und ein flatternder Applaus kam auf.
    »Danke«, sagte sie leise, grinste selig und bewegte lustvoll die Beine, eine Katze, die aus einem Schlummer in der Sonne erwachte. Sie konnte es kaum glauben – hier saß sie, La Dershowitz, hielt sie alle in Bann, spielte die Rolle der wahren, bescheidenen Künstlerin und ertrank beinahe in der Freude darüber. »Als Nächstes«, sagte sie leise, schlicht und dankbar, »möchte ich euch an einem Abschnitt aus einer Erzählung teilhaben lassen, an der ich gerade arbeite und die den Titel ›Sebastopol‹ trägt« – hier hielt sie inne und sah Irving Thalamus mit strahlendem Lächeln an –, »ein Text, bei dem Irving so großzügig war, mich – wie soll ich sagen? – zu beraten, wofür ich ihm ewig verpflichtet bin. Vielen Dank, Irving.«
    Irving befreite sich für kurze Zeit aus dem Gewusel von Janes Haaren und ließ das breite Thalamus-Pferdezahngrinsen aufblecken und erwiderte etwas, was alle zum Lachen brachte – Ruth verstand es nicht ganz, aber dem Klang nach war

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