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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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mehr gehabt, das Sauerstoffgerät anzustellen, deshalb würde er gleich frühmorgens hinausfahren. Natürlich erst, nachdem sie eingetroffen war. Sie würde doch kommen, oder?
    »Ja, Sax«, hauchte sie, »natürlich. Ich würde alles für dich tun.« Und dann schwand ihre Stimme fast völlig dahin. »Das weißt du doch.«
    Und so kam es, dass sie einen Moment lang – einen langen Moment, mindestens über zwei oder drei Seiten hinweg – zwar las, aber nicht recht konzentriert dabei war, nicht ganz. Auf der letzten Seite kam sie wieder zu sich und brachte die Erzählung gedämpft, schlicht und untheatralisch zu Ende. Sie sah auf. Lächelte. Der Beifall war nur ein leises Plätschern, wie Regen in der Wüste. Ihre Künstlerkollegen wirkten ausgelaugt, abgespannt. Laura Grobian sah aus, als hätte sie gerade ein Zugunglück überlebt. Orlando Seezers gab aus der Tiefe seines Rachens eigenartige Rassel- oder Brummlaute von sich, Sandy machte den Eindruck, als sei er eben aufgewacht. Las sie etwa zu lange? Der Gedanke durchzuckte sie kurz, aber sie verwarf ihn – schließlich sollte das Hauptereignis, die pièce de résistance , erst noch kommen. Sie hatten den Kuchen gehabt, jetzt war es Zeit für den Zuckerguss.
    Bei »Die Tränen und die Flut« ging Ruth behutsam vor, sie bemühte sich sehr, neben der Erinnerung an den dramatischen Vorfall auf der Veranda vor zwei Tagen (und ihre damit zusammenhängende Beziehung zu Hiro, an ihren Triumph über Abercorn und den Sheriff) zugleich mit jedem Satz und jeder Geste hervorzuheben, dass sie, im Gegensatz zu der theatralischen Jane Shine, eine Künstlerin war, die am tiefen Grund der Literatur werkte. Ihre Einleitung ähnelte dem Geplauder mit einer kranken Freundin. Sie klang gütig, vertraut, unaufdringlich, und sie spielte darin auf die Ereignisse der letzten Tage (und auch der letzten Wochen) an, ohne Hiro, Saxby, das ständig in der Halle läutende Telefon oder das Bezirksgefängnis in Ciceroville direkt zu erwähnen. Sie sprach vor allem von Japanern, sprach wiederholt von ihnen. War sie hier Expertin? Hatte sie konkrete, greifbare Erfahrungen? Sie sah mit rätselhaftem Lächeln in die Runde, wie sie es vorgehabt hatte, dann begann sie zu lesen.
    In der Mitte der Erzählung fing Orlando Seezers zu schnarchen an. Es war nichts wirklich Empörendes, keine trompetenden Luftzüge durch verengte Nasenlöcher, keine tiefen, furzenden Blasebalgtöne aus der Tiefe seiner Lunge, aber es war doch ein Schnarchen. Ruth sah von ihrem Blatt Papier auf. Wie ein Erschossener lag Seezers weit nach hinten gelehnt in seinem Rollstuhl, das drahtige Bärtchen reckte sich gen Himmel, und sein kariertes Mützchen, das er niemals abnahm, haftete aller Schwerkraft zum Trotz an seinem Hinterkopf. Sein Schnarchen war leise, beinahe höflich, aber dennoch deutlich vernehmbar – und alle vernahmen es auch.
    Jedenfalls alle, die noch wach waren. Als Ruth näher hinsah, war sie entsetzt. Septima war auf ihrem Stuhl eingenickt. Laura Grobian hatte ihre Lampe ausgeschaltet und sich eine dünne Decke bis über die Schultern gezogen, die berühmten gehetzten Augen starrten ins Leere. Brie hatte den Kopf gegen Sandys Schultern gelehnt. Sandy selbst litt an einem Zucken der Unterlippe. Ina und Regina wirkten unsäglich gelangweilt. Ganz vorn, auf dem Sofa, kämpfte Irving gegen die Müdigkeit, Teitelbaum war peinlich berührt – sollte sie Orlando einen Stoß geben oder nicht? –, und Jane, Jane triumphierte sichtlich.
    Ruth riss sich zusammen. Sie sah auf die Standuhr in der Ecke und wurde sich in plötzlichem Entsetzen – nein, wirklich? – bewusst, dass sie seit etwa zweieinhalb Stunden las. »Um Gottes willen«, entfuhr es ihr, und erstmals an diesem Abend belebte sich ihre Stimme. »Ich bin ja ganz – ich habe gar nicht gemerkt, wie lange ich schon …« Ein paar der Zuhörer witterten die Wende, witterten Blut und richteten sich mühsam auf. »Ja, also«, murmelte Ruth und deckte ihren Rückzug nach besten Kräften, aber sie hörte bereits den neuen Dauerwitz im Billardzimmer – Ruths Lesung? Drei Monate in der Strafkolonie sind nichts dagegen –, »ich danke für eure Aufmerksamkeit und für eure Geduld.«
    Benommen kamen die Künstler in Bewegung, scharrten mit den Füßen, rieben sich die verklebten Augen. Irving brachte den Beifall in Gang – sie konnte es nicht fassen, vorhin hatte sie noch so viel Freude und Liebe für sie empfunden, und jetzt fühlte sie nichts als Scham und

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