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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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würgende Hände. Er fühlte sich dem Ersticken nahe, als würde er erdrosselt, und eine Welle der Panik erfasste ihn. Im nächsten Moment kniete er, das Wasser umspülte kühl seine Handgelenke, die Sonne brannte herab, und er würgte Säure und Galle aus dem Magen herauf. Der beißende, saure Geschmack ließ seine Kehle wie Feuer brennen, und obwohl er wusste, dass man es nicht tun durfte – er hatte all die Filme gesehen, Hitchcocks Lifeboat und die Meuterei auf der Bounty , er wusste, dass das Trinken von Salzwasser einen in den Wahnsinn trieb und ein Vorspiel für Kannibalismus, Autophagie und Schlimmeres war –, beugte er sich zum Wasser hinab und trank, trank, bis er sich ganz aufgedunsen und flau fühlte. Dann warf er sich auf den Rücken und lag flach und willenlos auf seinem Wurzelbett, während die Regungen seines zweiten vitalen Bedürfnisses in ihm nagten.
    Eine Woche lang war er in der Arrestzelle gewesen, und in dieser Zeit hatte er mindestens neun Kilo abgenommen. Der Rollkragenpulli schwamm auf ihm, seine Handgelenke sahen aus wie die Knöchel eines Hausschweins, die Augen waren tief in ihre Höhlen gesunken, und seine früher fleischigen Wangen waren eingefallen. Zwei Reisbällchen am Tag. Es war unmenschlich, mittelalterlich, barbarisch. Und selbst das hatte er schon – wie lange? – zwei Tage nicht mehr bekommen. Während er so im stinkenden Gras unter der fremden Sonne eines wilden, fremden Landes lag, nass und erschöpft und halb verhungert, da spürte er seinen Verstand schmelzen wie einen Lutschbonbon, bis er mit dem Magen und dem Kopf zugleich dachte. Sein Gehirn nahm die Leere des Himmels in sich auf und steckte die Grenzen seines Elends ab, während sein Magen die schlimmsten Beschimpfungen gegen ihn erhob. Leer und hohl knurrte, gurgelte und brummte er und klagte ihn mit jeder sinnlosen Kontraktion von Neuem an. Ein Idiot war er, ein Narr, ein Dummkopf. Immerhin könnte er sich jetzt auf dem Japan-Air-Flug nach Narita die Serviette über den Schoß breiten und die Stewardess um eine Extraportion Reis bitten, um etwas mehr von dem norwegischen Lachs, um noch ein kleines Schlückchen Sake, und alles auf Kosten der japanischen Botschaft. Natürlich würden sie ihn am Flughafen erwarten: mit Handschellen, einem halben Dutzend Anklagepunkten, von tätlichem Angriff bis zur vorsätzlichen Befehlsverweigerung, und seine Demütigung wäre grenzenlos – aber konnte es schlimmer sein als das hier? Sein Magen fragte ihn: Wozu die Würde, ja wozu das Leben selbst, ohne Essen?
    Wie die meisten Japaner betrachtete Hiro seinen Bauch – sein hara – als seinen Mittelpunkt, als den Quell aller körperlichen und spirituellen Stärke. Wo die Abendländer Menschen warmherzig oder kaltherzig nennen, von Herzeleid oder Herzensfreude sprechen, da würde jeder Japaner das Bild auf den Magen übertragen – ein in seinen Augen weit vitaleres Organ. So führt man eine offene Aussprache unter Freunden von Bauch zu Bauch: hara o awaseru , während ein Schurke, dessen Herz eine Mördergrube ist, zum Schwarzbauch wird: zu einem hara ga kuroi hito. Fünf Zentimeter unter dem Nabel liegt das kikai tanden , das spirituelle Zentrum des Körpers. Und das Freisetzen des ki – des Geistes – beim Akt des hara-kiri bezieht sich auf seine Befreiung aus dem Bauch, aus dem Darmtrakt, dem einzigen Organ, das zählt.
    Für Hiro hatte das hara sogar eine noch wesentlich tiefere Bedeutung, denn er lebte fürs Essen. In der Schule gehänselt, auf dem Spielplatz gequält, suchte er Trost beim Bäcker, im Nudelladen, am Eiscremestand, wo er zugleich die Gelüste seines Bauches befriedigte und sich Kraft und Entschlossenheit zuführte. Mit der Zeit wurde das Essen zu seiner einzigen sinnlichen Ausdrucksform. Sicher, hie und da hatte er fleischliche Begegnungen mit Bardamen und Prostituierten gehabt, er hatte sie aber nie sehr genossen, hatte sich nie verliebt – er war ja auch erst zwanzig –, und so bot ihm das Leben nur Arbeit, Schlaf und Essen. Und Essen war genau das, was er jetzt brauchte. Ganz dringend. Aber was konnte er tun? Er hatte acht Stunden lang im Wasser getrieben, die Wellen durchpflügt wie ein Marathonschwimmer, und nun war er so erschöpft, dass er nicht einmal den Kopf gerade halten konnte. Flüchtig dachte er daran, ein bisschen Sumpfgras zu kauen, um das Gewitter in seinem Gedärm zu beruhigen, dann schloss er die Augen und stellte sich das Hemd des alten Kuroda vor, an dem die letzten zwei Reisbällchen

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