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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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gesagt.
    Er zerrte an Lianen und Zweigen und patschte durch einen schaumbedeckten Bach, in dessen seichtem Wasser er irgendetwas aufscheuchte. Außer Atem warf er sich schließlich in den rötlichen Morast und überdachte seine Lage. Eine Weile hielt er die Luft an, um zu lauschen – sie jagten einen mit Spürhunden, das wusste er. Denen reichte eine Socke, eine Sandale, eine Zigarettenkippe, um einen bis ans andere Ende der Welt zu verfolgen. Noch hatte er zu große Angst, um sich elend zu fühlen, war er zu erschöpft, um klar denken zu können. Aber als er sich beruhigt hatte, als die Sonne hinter dem Rand der Erde verschwand und die Bäume in gespenstischem Zwielicht zurückließ, als die Vögel der Nacht über ihm kreischten, da fühlte er sich wieder so richtig elend und überlegte, ob er nicht doch ein bisschen zu voreilig gehandelt hatte.
    Vielleicht hatte sie ihm ja wirklich helfen wollen. Sie hatte gesagt, sie wolle ihm etwas zum Anziehen bringen. Er konnte wohl kaum erwarten, dass sie Männerkleider in ihrer Hütte hatte, oder? Sie wohnte nicht dort, so viel wusste er. Sie kam am Morgen und ging am Nachmittag. Er nahm an, dass sie so etwas wie eine Sekretärin war und die Hütte im Wald ihr Büro – und wenn das stimmte, nun ja, dann hatte sie vielleicht tatsächlich etwas zum Anziehen geholt … und noch etwas zu essen, knackiges Gemüse und Obst, Sandwiches mit Fleischaufstrich wie die, die in dem Plastikbehälter gewesen waren, in Alufolie eingepackte Käseeckchen und ein Stück Kuchen mit Zuckerglasur. Sein hara meldete sich vernehmlich. Er stand aus dem Schlamm auf, überall juckte es ihn, ein säuerlicher, unbestimmbarer Geschmack lag ihm auf der Zunge, und er kämpfte sich zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.
    Es war nicht leicht. Die Schatten wurden dichter; die Bäume standen Arm in Arm in geschlossenen Reihen und glichen einander wie Grashalme; flinke, unsichtbare Wesen huschten durch das Unterholz zu seinen Füßen. Zweimal strauchelte er und fiel kopfüber ins Gebüsch, wo die schmutzige Gaze seidiger Spinnweben ihm Mund und Nasenlöcher verklebte, Legionen von Moskitos peinigten ihn. Fast hatte er schon die Hoffnung aufgegeben, da gönnte ihm das Gewirr der Gewächse die kurzfristige Erholung einer Lichtung.
    Er erstarrte. Es war jetzt stockfinster, die Nacht war klar und mondlos. Keine sechs Meter vor ihm stand das Studio, konturlos, eine dunkle Form, die alle Schatten der Umgebung in sich aufsog. Nichts regte sich. Er lauschte dem Zirpen der Grillen, dem Sirren der Moskitos, dem schweren Pochen und Pfeifen, das seine innere Maschinerie von sich gab, während sie daran arbeitete, ihn am Leben zu erhalten. Was, wenn sie ihm da drin auflauerten? Wenn sie ihn sogar jetzt beobachteten, die Hunde bei Fuß, die Gewehre im Anschlag, die Finger am Schalter der Suchscheinwerfer?
    Zögernd, Schritt für Schritt, näherte er sich der dunklen Masse, die das Studio war. In der Schule, zu Hause bei seiner obāsan , beim Schrubben der Decks auf der Tokachi-maru , hatte er die eigene Körperlichkeit fast vergessen, und nun spielte er auf einmal wieder ein Kinderspiel: Ampel rot – Ampel grün. Er machte einen Schritt vorwärts und hielt inne. Zwei Schritte. Dann noch einen. Als er ganz nah war, als er die waagerechte Stange des Verandageländers von dem dunklen Hintergrund unterscheiden konnte, durchzuckte es ihn freudig. Da waren ja die Kleider! Er griff nach den Sachen, das weiße T-Shirt schimmerte fahl. Sie hatte ihn also doch nicht verraten – sie war seine Verbündete, seine Freundin, sein Trost und Beistand, und sie hielt sich an die Regeln, also doch, obwohl er für sie so fremd sein musste wie sie für ihn. In diesem Augenblick liebte er sie.
    Im nächsten brach die Welt für ihn zusammen. Ja, sie hatte ihm Antiseptika und Verbandsmaterial, Wasser und Seife gebracht, und Kleider, die nach Waschmittel und Heißlufttrockner dufteten – aber das Wichtigste hatte sie vergessen: Es zog ihm den Magen zusammen, und er stöhnte unter peristaltischen Qualen: Sie hatte das Essen vergessen. Die Äpfel, Datteln und Kekse, all die guten Sachen in dem Alu-Behälter, sie waren nur eine ferne Erinnerung, und jetzt packte ihn ein gewaltiger, heulender, unbezwingbarer Hunger wie ein Wutanfall. Dieses Miststück, dieses dumme Miststück, sie hatte vergessen, ihm Essen zu bringen!
    Na gut. Immerhin hatte er Kleider, Seife und klares, sauberes Trinkwasser. Jedenfalls nahm er an, dass es klar, sauber

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