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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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sprang er plötzlich aus dem Sessel, traf innerhalb von Sekunden einen Entschluss – zum Teufel mit ungeschriebenen Gesetzen, er würde jetzt hingehen und Ruth überraschen. Schließlich arbeitete sie da draußen schon zwölf Stunden durch, verdammt noch mal – in dieser Zeit hätte sie ja Krieg und Frieden vorwärts und rückwärts schreiben können. Was zu viel war, war zu viel. Wenn ihr kreativer Kokon dabei einen Riss bekam, dann war das eben Pech, aber sie konnte ihn ja am nächsten Tag wieder flicken. Er hatte das Warten satt.
    Rote Erde, das Grün wurde langsam grau, der Pfad lag vor ihm wie eine Rauchfahne. Er schritt schnell aus, erst plagten ihn die Sandmücken, dann die Moskitos. Anolisechsen raschelten durch das dichter werdende Unterholz. Über sich hörte er das leise Schmatzen und danach das klagende, geschluchzte Trällern der Nachtschwalbe, deren Ruf ihr den Namen »Chuck-will’s-widow« eingebracht hatte; von allen Bäumen erklang das Geschnatter der sich zur Ruhe begebenden Tagvögel. Es war die Abendstunde, in der die Rautenklapperschlange aus ihrem Loch im Boden herausgleitet und sich von den Bewegungen der warmblütigen Tiere anlocken lässt, die ihre Beute bilden. Saxby trat sehr behutsam auf.
    Und dann, an der letzten Biegung vor dem Studio, bemerkte er etwas Dunkles auf dem Pfad vor sich. Dick und fast unsichtbar, schwarz in den Schattierungen der Nacht. Vermutlich war es nur eine Streifennatter, aber in ein paar Minuten würde er diesen Pfad zusammen mit Ruth noch einmal entlangkommen, und er wollte keine dummen Überraschungen erleben. Zehn Meter vor dem Tier – es war tatsächlich eine Schlange, eingeringelt wie ein Lasso lag sie mitten auf dem Pfad – bückte sich Saxby nach einem Stock. Geduckt, einen Fuß langsam vorschiebend, den Stock vor sich haltend wie ein Florett, näherte er sich ganz vorsichtig dem Vieh und spürte, wie ihm das Herz kurz stehen blieb, als es auf den Stock losging und im selben Moment ohrenbetäubend zu klappern begann. Das schwirrende Geräusch war wie eine Explosion, wie gellende, schrille Kastagnetten. Aber ebenso rasch verstummte es auch wieder, und die Schlange verschmolz schemenhaft mit dem Unterholz, wobei sie nur ein kaum hörbares Rascheln von Laub und Zweigen verursachte.
    Saxby ließ den Stock fallen und ging weiter den Pfad entlang, während ihm das Blut in den Ohren pochte. Mit Schlangen hatte man doch immer einen Riesenspaß, dachte er und setzte mit übertriebener Sorgfalt einen Fuß vor den anderen, als wate er durch nassen Zement. Als er an die letzte Biegung des Pfades gelangte, war es stockfinstere Nacht, und er ärgerte sich, dass er seine Taschenlampe vergessen hatte. Aber Ruth würde eine haben – und wenn nicht, würden sie sich eben einen Stock abschneiden und damit vor sich über den Weg streichen, so wie er es als Junge immer gemacht hatte, wenn er von einem seiner Abenteuer am anderen Ende des Sumpfes spät nach Hause zurückgekehrt war. Er dachte an Ruth, in seinem Kopf nahm bereits eine amüsante Version der Begegnung mit der Schlange Formen an, da kam das Studio in Sicht.
    Es brannte kein Licht.
    Das war eine Überraschung. Zuerst dachte er, er hätte sie irgendwie verpasst, dann aber erinnerte er sich an seinen letzten Verdauungsspaziergang zum Studio und wie er sie damals im Dunkeln sitzend angetroffen hatte. Er wollte ihren Namen rufen, aber etwas ließ ihn zögern. Sie sprach dort mit jemandem, ihre Stimme war ein undeutliches Murmeln, in dem ein mahnender oder drängender Unterton lag, als schelte sie ein Kind. Und dann ging quietschend die Fliegentür auf und fiel wieder zu. Saxby erstarrte. Da stand jemand auf der Veranda, und es war nicht Ruth.

HUNDEGEBELL
    Als Ruth mitten in der Nacht zu ihm kam, träumte er gerade von seiner Mutter, von seiner haha , seiner okāsan , dem milde lächelnden Mädchen im Minirock, das ihn auf die Welt gebracht und gestillt und tief in die Augen geblickt hatte. Es war das Gedächtnis der Wiege, eine Traum-Erinnerung, idealisiert und destilliert aus dem Stapel von Fotografien, den seine Großmutter in der untersten Schublade ihrer Kommode aufbewahrte. Die Fotos flatterten durch seinen Traum wie ein Kartenspiel, und er sah seine Mutter vor einem Paukstudio stehen, mit ihrer Gitarre, den stämmigen Beinen und dem hübschen breiten Gesicht, das er von ihr geerbt hatte; er sah sie auf dem Futon, jetzt etwas schlanker, den Blick fest auf den strampelnden Säugling gerichtet, den sie im Arm

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