Der Samurai von Savannah
hielt; er sah sie in einer überfüllten Bar allein herumstehen, hinter sich Flaschen wie blinkende Sterne. Und dann stieg ihr Gesicht auf wie der Mond am Himmel über ihm, und auf einmal war sie Chieko, die Frau mit den breiten Hüften, die er in einer Spelunke im Yoshiwara-Bezirk kennengelernt hatte, ihre Arme umschlossen ihn, ihre Lippen saugten an seinen wie eigenständige Wesen …
Dann klapperte die Tür, und ihm war klar, dass die Polizei ihn holen kam, mit Negern und Hunden.
Aber nein, es war Ruths Stimme, die da aus der Nacht zu ihm drang. Ruths Stimme. Hastig griff er nach den Shorts, nach dem Türriegel. Stimmte etwas nicht? Nein. Wollte sie, dass er das Licht einschaltete? Nein. Sie verströmte einen Moschusduft, einen Geruch, der aus einer Flasche aufstieg und der ihn in seinen Traum zurückversetzte, zu Chieko und den glitzernden Lichtern von Yoshiwara.
Ruth küsste ihn, ihre Lippen lagen kühl auf seinen, und er spürte ihre Zunge in seinem Mund. Ihr Kleid war aus dünnem Chiffon und fühlte sich auf seiner Haut elektrisierend an. Er begriff nicht – sie waren doch Freunde, hatte sie gesagt, nur Freunde, und der lange Butterstinker mit den Haaren wie Reispapier und diesen hellen Augen mit dem unsteten Blick, der war ihr Liebhaber. Aber nun rutschte ihr Kleid zu Boden, als zöge eine unsichtbare Hand daran, und sie umarmte ihn, presste sich gegen ihn, das ganze reine, weiße, langbeinige Rätsel, das sie war, trat mit ihm in Beziehung, und er versuchte gar nicht zu verstehen, wollte nicht verstehen, es war ihm egal.
Am Morgen, am hellen Tag, hob sie den Kopf von seiner Brust und sah ihm in die Augen. Er fühlte, wie sie sich an ihn schmiegte, und er lauschte dem leisen Murmeln des Lebens, das in den Bäumen draußen erwachte, und hielt dem Blick ihrer kühlen grauen Augen stand, wenn auch jedes Fältchen seines Gesichts seine Aufregung widerspiegelte. Sie schien sich über irgendetwas klar werden zu wollen, taxierte ihn, ließ die Nacht und den Augenblick und die plötzliche Vielfalt ihrer Möglichkeiten Revue passieren. »Nur Freunde«, flüsterte er, und das war genau das Richtige. Sie lächelte, öffnete sich ihm, erblühte geradezu, und dann küsste sie ihn und alles war wieder gut.
Sie ging in ihr anderes Haus zurück, in das Große Haus, noch ehe die Sonne über den Bäumen stand, und später brachte sie ihm Brötchen, Obst und in Streifen geschnittenes Fleisch. Während er aß, setzte sie sich an die Schreibmaschine und schlug mit wilder Kraft auf die Tasten ein. Nach ungefähr einer Stunde, während einer der langen Pausen, in denen sie aus dem Fenster starrte und mit entrückter Stimme etwas vor sich hin murmelte, räusperte er sich und fragte sie, was sie da eigentlich schreibe.
»Eine Erzählung«, sagte sie, ohne aufzublicken.
»Thriller?«
»Nein.«
»Liebesgeschichte?«
Sie drehte sich auf ihrem Stuhl zu ihm um. Er hatte es sich auf der Couch bequem gemacht und blätterte in einer Wochenzeitschrift – Berichte über Crack, Aids, auf dem Schulhof niedergeschossene Kinder – und langweilte sich bis in die Haarwurzeln. »Es ist eine tragische Erzählung«, sagte sie, »sehr traurig«, und stellte das Gefühl mit herabgezogenen Mundwinkeln pantomimisch dar.
Während sie weitertippte, dachte er eine Weile darüber nach. Eine tragische Erzählung. Natürlich. Was sonst? Das Leben war ja tragisch. »Von was es handelt?«, fragte er, obwohl er wusste, dass er sie von der Arbeit abhielt, und deshalb ein schlechtes Gewissen hatte.
»Von Japanern«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »In Amerika.«
Das überraschte ihn, und noch ehe er es richtig aufgenommen hatte, platzte er heraus. »So wie ich?«
Jetzt wandte sie sich um. »Ja, so wie du«, sagte sie und tippte schon wieder weiter.
Zur Essenszeit ging er hinaus und kauerte sich ins Gebüsch, bis der hakujin mit dem kerzengeraden Rücken und der Drahtbürstenfrisur den Essensbehälter an den Haken gehängt hatte und wieder verschwunden war. Anfangs wollte Ruth das Essen nicht anrühren – es waren kleine Brötchen mit Gurke und Wurst, frisches Gemüse und Himbeeren mit Schlagsahne zum Nachtisch –, aber er bestand darauf. Zwar war er halb wahnsinnig vor Hunger, aber er hatte derartige Schuldgefühle, weil er ihr so viel verdankte – und nach der vergangenen Nacht noch mehr –, dass er nicht mitansehen konnte, wie sie leer ausging. Sie war so schmächtig, und das nur seinetwegen. »Wir teilen«, sagte er, ließ sich vor ihr auf
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