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Der Sand der Zeit

Titel: Der Sand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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auf einem kleinen, kaum fünfzig Schritte im Quadrat messen-den Felsplateau herausgekommen, das an drei Seiten von den schwarzen Wehrmauern Aztlans eingeschlossen war; auf der vierten brach der Fels jäh ab, um sich dann in einem sanften Gefalle zum Meer herabzusenken.
    Aber was für ein Meer!
    Das Wasser lag glatt wie ein mächtiger, aus blindem grauem Blei gegossener Spiegel unter uns. An seinem Gestade ragten Felsen auf, knorrige, tiefschwarze Schatten, an denen sich schaumige Wellen in gespenstischer Lautlosigkeit brachen.
    Ich fror, denn obwohl die Luft warm war und der Boden noch die gespeicherte Hitze des Vortags atmete, wehte ein eisiger Wind, der in den letzten Minuten noch zusätzlich aufge-frischt hatte. Wie durch einen geheimnisvollen Zauber schien er aber die erstarrten Wellen des Meeres zu unseren Füßen nicht zu berühren. Es war ein sehr eigentümlicher Wind.
    Nach einer Weile begann die Kälte durch meine Kleidung und unter meine Haut zu kriechen. Meine Fingerspitzen wurden taub, und mein Gesicht prickelte, als scheuerten Millionen mikroskopisch feiner Glassplitter über meine Haut.
    Es war kein Seewind, böig und von dem eigentümlichen Aroma des Ozeans erfüllt, jener Mischung zwischen Salzwasser und dem Geruch nach Ferne und Grenzenlosigkeit, sondern ein beständiger, sehr gleichmäßiger und unangenehmer Luftzug, der einen an offenstehende Fenster und nicht richtig schließende Türen in einer kalten Winternacht denken ließ. Und er stank.
    Er stank nach fauligem Fisch, nach verrottendem Tang und noch etwas anderem, unbeschreiblich Widerwärtigem.
    Ich fühlte mich immer unwohler. Für einen Moment versuchte ich mir einzureden, daß es nur der ekelige Geruch war, der mich nervös machte, aber im Grunde wußte ich genau, daß das nicht stimmte. Es war etwas anderes.
    Plötzlich mußte ich an eine Spinne denken, die reglos dahockt und darauf wartet, daß die ahnungslose Fliege in ihr Netz geht.
    Ich sah auf, als ich Schritte hinter mir hörte, und erkannte Setchatuatuan. Der junge Olmekenprinz war blaß wie ein Leichentuch. Sein Blick flackerte wie der eines Wahnsinnigen.
    »Was … ist … das … hier?« flüsterte er, stockend, mit großen Pausen zwischen den Worten, als koste ihn das Sprechen seine ganze Kraft. »Das ist unmöglich. Aztlan …
    liegt nicht am Meer.«
    Ich blickte schaudernd auf den schwarzen Teerozean hinab.
    Setchatuatuans Worte überraschten mich nicht einmal wirklich. Dies war kein wirkliches Meer. Wie Aztlan war es ein Teil jener anderen, verbotenen Welt. Vielleicht war der Ort, an dem wir uns befanden, so etwas wie die Grenze, eine winzige, durchlässige Stelle in der unsichtbaren Mauer, die die verschiedenen Wirklichkeiten voneinander trennt. Ich antwortete nicht.
    »Wir müssen weiter«, sagte Setchatuatuan nach einer Weile. »Einer der Nordkrieger hat einen Weg in die Stadt gefunden.
    Eine Bresche in der Mauer.« Ich starrte ihn an. »Du willst wirklich dort hinein?« fragte ich schaudernd. Setchatuatuan war halb wahnsinnig vor Angst, das sah ich. Aber er nickte trotzdem. »Deshalb sind wir hier, oder?«
    Ich widersprach nicht mehr, sondern folgte ihm. Der Durchlaß in der Mauer, den der Wikinger entdeckt hatte, entpuppte sich als gewaltsam gebrochene Lücke, halb so hoch wie ein Mann und kaum einen halben Yard breit. Sie sah aus, als hätte etwas mit der Wucht einer Interkontinental-Rakete das schwarze Material getroffen und einfach durch-schlagen. Schaudernd ließ ich mich auf die Knie herabsinken und spähte hindurch. Die Mauer mußte mindestens zwanzig Yards dick sein; das Loch erinnerte mich auf sehr unangenehme Weise an ein Kanonenrohr. Die Vorstellung, dort hindurchkriechen zu müssen, behagte mir ganz und gar nicht. Aber es gab keinen anderen Weg in die Stadt hinein.
    Allein die Vorstellung, diese monströse Mauer übersteigen zu wollen, war schlichtweg lächerlich.
    Mit klopfendem Herzen kroch ich los. Der Tunnel war so eng, daß ich praktisch auf dem Bauch robben und mich an Finger- und Zehenspitzen vorwärts schieben mußte, und meine überreizten Nerven gaukelten mir immer wieder Bewegungen und Geräusche vor, die nicht da waren.
    Wahrscheinlich brauchte ich nicht mehr als fünf Minuten, um durch den Tunnel zu kriechen, aber sie kamen mir vor wie Stunden, und hinterher war ich so erschöpft, als hätte ich einen Marathonlauf hinter mir. In meinem Kopf drehte sich alles und meine Glieder schienen Tonnen zu wiegen. Aber es lag nicht an der Anstrengung. Es war

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