Der Sand der Zeit
Bug erschien eine gewaltige, hünenhafte Gestalt, schwarz gegen den hellen Hintergrund des Himmels.
»Erickson«, rief Hellmark noch einmal. »Komm her und kämpfe mit mir, wenn du den Mut hast.«
Erickson antwortete nicht, aber er hob langsam die Hand und zog einen Pfeil aus dem Köcher auf seinem Rücken. Hellmark spannte sich, aber nur für einen Augenblick. Vielleicht konnte er dem Pfeil ausweichen, vielleicht auch einem zweiten oder dritten, aber das würde das Ende nur um wenige Augenblicke hinauszögern. Und er wollte Erickson nicht den Triumph bieten, ihn in den Rücken schießen zu können.
»Gut, Leif Erickson«, rief er mit weit schallender Stimme. »Du hast mich besiegt, aber nicht im Kampf, sondern durch Verrat und Intrige. Vielleicht wird die Welt deinen Namen als den des Mannes behalten, der die neue Welt entdeckt hat, aber die Wahrheit wird an den Tag kommen, irgendwann. Du hast mich verraten, mich und alle, die dir vertraut haben. Ich verfluche dich im Namen Odins!«
Erickson antwortete auch diesmal nicht, aber der Bogen in seinen Händen spannte sich, und für einen winzigen Moment blitzte die metallene Spitze des Pfeiles auf wie der Stachel eines tödlichen Insektes. Hellmark schloß die Augen, als Leif Erickson die Sehne losließ.
Er schrie, als der Pfeil mit Wucht durch seinen Harnisch fuhr und tief und tödlich in seine Brust biß, aber der Schrei erstarb und wurde zu einem würgenden Laut, der im Wind verklang, und Hellmark brach mit einem Stöhnen in die Knie. Noch einmal reckte er beide Arme in die Höhe, wandte den Blick zum Himmel und murmelte: »Odin, Gott der Gerechtigkeit, räche diesen Verrat! Sie sollen bezahlen für ihre Schandtat, ein Leben gegen hundert! Leif Erickson, ich … verfluche … dich …«
Niemand hörte die Worte, und als Hellmarks Arme niedersan-ken und er nach vorne auf die Schiffsplanken stürzte, war er bereits tot. Nur über ihm, weit über ihm am Himmel ballten sich plötzlich schwarze Gewitterwolken zusammen, und als der erste Blitz niederfuhr, sah die größte von ihnen wie ein gewaltiger, nachtschwarzer Rabe aus.
Aber auch das bemerkte niemand. Und als die kleine Flotte wenige Stunden später die Küste erreichte und die ersten Europäer den Fuß auf einen Kontinent setzten, der später, sehr viel später, noch einmal entdeckt und Amerika getauft werden sollte, hatten sie seinen Fluch schon fast vergessen.
Aber die Götter vergessen niemals, und für sie sind hundert Jahre weniger als ein Augenblick. Und bis sich Hellmarks Worte auf grausame Weise erfüllen würden, sollten noch mehr als eintausend Jahre vergehen …
Havilland brauchte fast eine halbe Stunde, um die wenigen Seiten zu lesen, auf denen ich meinen stets wiederkehrenden Alptraum niedergeschrieben hatte, was allerdings sicher nicht an der literarischen Qualität des Textes lag. Aber ich sah, daß er manche Stellen mehrmals las, ehe er zum nächsten Absatz überging, manchmal saugten sich seine Blicke regelrecht an einer Zeile fest, und ein- oder zweimal wurde er merklich blaß.
Als er die erste Seite zu Ende gelesen hatte, legte er sie nicht auf den Tisch zurück, sondern gab sie Becker, der sie kommentarlos überflog, und genauso reagierte wie der Professor. Wie gesagt, die beiden brauchten eine halbe Stunde, um die knapp zehn Seiten zu lesen, und ein paarmal flüsterten sie miteinander und warfen mir sonderbare Blicke zu.
Als Havilland endlich die letzte Seite aus der Hand legte und mich wieder ansah, da war der Zorn aus seinem Blick gewichen, und statt dessen gewahrte ich eine Mischung aus Unsicherheit und Schrecken. Aber noch hatte ich nicht gewonnen, das wußte ich. Die größte Hürde stand mir noch bevor. »Das ist … höchst interessant«, sagte Havilland. »Eine beachtenswerte Theorie für einen Mann, der von sich behauptet, nichts von nordischer Geschichte zu verstehen.« Er sprach stockend, in der Art eines Mannes, der nach den richtigen Worten suchte und sie nicht fand.
»Es ist keine Theorie«, antwortete ich. »Und das wissen Sie so gut wie ich, Professor Havilland.«
Havilland biß sich auf die Unterlippe und tauschte einen fast hilflosen Blick mit Becker. Dann wandte er sich wieder an mich. »Sind Sie Schriftsteller, Mr. Craven?« fragte er.
»Ich vermute, es handelt sich um den Anfang eines Romans und Sie wünschen, daß ich Ihnen helfe.«
»Nein«, sagte ich. »Ich brauche Ihre Hilfe, Professor. Aber das da«, ich deutete auf die Blätter, die wieder vor ihm auf
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