Der Sand der Zeit
verlange es auch gar nicht, Professor. Hätte mir irgend jemand vor einigen Jahren die gleiche Geschichte erzählt, hätte ich ihn einfach für verrückt erklärt. Aber sie ist wahr.« Ich deutete wieder auf das Manuskript. »Es ist nicht das erstemal, daß ich diese Art von … Vision habe«, fügte ich hinzu. »Ich weiß nicht, was sie bedeuten. Vielleicht ist es wirklich eine Art … Hellse-hen. Aber ich habe gelernt, auf diese Warnungen zu hören, Professor.«
»Und was verlangen Sie jetzt von mir?« fragte Havilland.
Ich zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, gestand ich. »Ich weiß nur, daß das, was ich in diesem Traum gesehen habe, sich genau so zugetragen hat, und zwar hier ganz in der Nähe. Und ich weiß, daß irgend etwas passieren wird. Bald.«
Havilland verzog die Lippen. Er versuchte vergeblich, seiner Stimme einen abfälligen Klang zu verleihen. »Sie meinen, daß die Toten wieder auferstehen und Hellmarks Fluch wahrmachen werden?«
»Vielleicht«, sagte ich ernst. »Vielleicht passiert aber auch etwas ganz anderes. Ich weiß zu wenig von diesen Dingen.
Deshalb bin ich hier, Professor Havilland. Ich brauche jemanden, der mir hilft, dieses Rätsel zu lösen. Bevor etwas Schreckliches geschieht.«
»Ich glaube nicht an Zauberei oder übersinnliche Wahrnehmungen«, sagte Havilland. »Ich bin Wissenschaftler, Mr.
Craven.«
»Auch die Magie ist eine Art Wissenschaft«, antwortete ich.
»Sie hat nichts mit Zauberei zu tun, Professor. Aber es gibt Kräfte in der Natur, die wir noch nicht verstehen und die uns deshalb wie Zauberei vorkommen. Arbeiten Sie mit mir zusammen, Professor. Lassen Sie uns gemeinsam versuchen, dieses Rätsel zu lösen. Was haben Sie zu verlieren?«
Havilland antwortete auch diesmal nicht sofort, sondern tauschte einen langen, sehr langen Blick mit Jake Becker.
Dann seufzte er tief und drehte sich mit einer müde wirkenden Bewegung wieder zu mir herum.
»Bitte lassen Sie uns einen Moment allein, Mr. Craven«, sagte er. »Jake und ich müssen darüber reden.«
»Selbstverständlich.« Ich stand auf, verließ die Küche und schloß sorgsam die Tür hinter mir. Äußerlich war ich ganz ruhig, aber diese Ruhe war so vorgetäuscht und falsch wie die Gelassenheit Havillands. Hinter meiner Stirn tobte ein wahrer Sturm einander widersprechender Gefühle und Gedanken, auf der einen Seite war ich erleichtert, Havilland endlich die Wahrheit gesagt zu haben, auf der anderen Seite war ich mir vollkommen darüber im klaren, daß meine Chancen, die nächste Stunde noch in diesem Haus zu verbrin-gen, nicht allzu gut standen. Havillands Reaktion auf mein Manuskript hatte mir bewiesen, daß ich ins Schwarze getroffen hatte, wahrscheinlich standen auf diesen zehn Seiten nicht nur eine Menge Dinge, die seine Theorie bestätigten, sondern auch die Antworten auf eine ganze Reihe von Fragen, die er bisher noch nicht hatte klären können.
Aber Havilland war Wissenschaftler mit Leib und Seele.
Selbst wenn er es wollte, er konnte mir unmöglich so mir nichts, dir nichts glauben, daß ich ein Magier war, denn das würde bedeuten, daß er so ziemlich alles widerrufen mußte, woran er Zeit seines Lebens geglaubt hatte.
Ich blieb etwa zehn Minuten in der Diele stehen und wartete darauf, daß Havilland oder Becker herauskamen, dann hielt ich es einfach nicht mehr aus und ging zurück. Aber ich ging nicht wieder in die Küche, sondern tat etwas, was eigentlich gegen meine Natur verstieß, ich legte das Ohr gegen die Tür und lauschte.
Durch das dicke Holz konnte ich nur Wortfetzen verstehen, aber was ich mitbekam, das war keine Diskussion mehr, sondern schon fast ein ausgewachsener Streit.
»… völlig ausgeschlossen, Jake!« sagte Havilland gerade.
»Es muß eine andere Erklärung geben!«
»Aber er wußte sogar die Namen!« antwortete Becker erregt. »Dabei haben Sie sie selbst erst vor ein paar Tagen entziffert! Nicht einmal ich kannte sie, bis gestern abend!
Und dieser Bericht! Es ist, als ob er dabeigewesen wäre!«
»Trotzdem«, widersprach Havilland. »Ich,«
Hinter mir bewegte sich etwas.
Es war wie vorhin in der Halle, ganz plötzlich war dieses Gefühl wieder da, das unerschütterliche Wissen, nicht mehr allein zu sein, beobachtet, nein, schlimmer, belauert zu werden. Ich fuhr herum und fand mich allein. Der Korridor erstreckte sich hinter mir noch vier oder fünf Yards weit, ehe er vor einer geschlossenen Tür endete, und durch das große Fenster auf der linken
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