Der Sand der Zeit
Seite fiel heller Sonnenschein herein, der jeden Winkel des kleinen Raumes ausleuchtete. Es gab nicht einmal ein Versteck, das groß genug gewesen wäre, eine Maus aufzunehmen.
Ich atmete erleichtert auf, wollte mich wieder herumdrehen, und erstarrte ein zweites Mal, als mein Blick auf meinen Schatten fiel, der sich deutlich von der weißen Wand abhob. Aber das war nicht meine Silhouette, die er nach-zeichnete. Es war der Schatten eines Riesen, breitschultrig und so muskulös, daß er schon fast mißgestaltet wirkte. Auf seinem Kopf saß ein gewaltiger, mit zwei riesenhaften Hörnern geschmückter Helm. In der rechten Hand hielt er etwas, das ich mit jähem Schrecken als ein fast meterlanges Schwert erkannte und das sich, obwohl ich weiter starr und wie gelähmt dastand, jetzt ganz allmählich hob, wie zu einem tödlichen Streich.
In diesem Moment wurde die Küchentür geöffnet, und von einer Sekunde auf die andere war der Spuk verschwunden, der Schatten wieder mein eigener Schatten. Erschrocken fuhr ich herum, starrte in Beckers leicht verwundert dreinblickendes Gesicht und wandte dann abermals den Kopf, darauf gefaßt, wieder die schreckliche Erscheinung zu sehen. Aber sie war fort. Und erst jetzt bemerkte ich, daß auch das Gefühl der Gefahr verschwunden war. Mein Herz hämmerte. Ich spürte, wie meine Hände zitterten.
»Ist Ihnen nicht gut?« fragte Becker besorgt.
Ich schüttelte ein wenig zu hastig den Kopf. »Alles in Ordnung«, log ich. »Ich bin nur … ein wenig nervös.« Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf die Küche. »Was hat der Professor gesagt?«
Ich las die Antwort auf meine Frage in Beckers Augen, ehe ich sie hörte. »Es tut mir leid«, sagte er. »Aber er möchte nicht mehr mit Ihnen sprechen.«
»Aber,«
»Das ist sein letztes Wort«, unterbrach mich Becker. »Er dankt Ihnen für die Mühe, die Sie sich gemacht haben, und bittet Sie, ihm Ihr Manuskript noch ein Weilchen dazulassen, damit er sich eine Kopie anfertigen kann. Und im übrigen hat er mich gebeten, Ihnen beim Packen zu helfen.«
Ich sah Professor Havilland nicht einmal mehr wieder, um mich von ihm zu verabschieden. Becker begleitete mich auf mein Zimmer und half mir dabei, meine wenigen Habseligkeiten wieder in der Reisetasche zu verstauen, aus der ich sie erst vor ein paar Stunden herausgenommen hatte, aber ich spürte genau, daß dies nur ein Vorwand war, in Wirklichkeit paßte er auf mich auf, damit ich mich nicht noch einmal im Haus verirrte. Er war höflich, und sein Bedauern wirkte echt, aber er schüttelte unerbittlich den Kopf, so oft ich ihn auch bat, Havilland wenigstens noch einmal sprechen zu dürfen.
Kaum eine Stunde nach dem so unglückselig verlaufenen Frühstück verließen wir Havillands Villa und stiegen in Beckers altersschwachen Dodge.
Er startete den Motor, fuhr aber noch nicht los, sondern sah mich fragend an. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte er. »Ich kann Sie mit dem Wagen in die nächste Stadt fahren, in der es einen Bahnhof gibt. Oder Sie mieten Crandells Boot und lassen sich nach Nueva Arenia übersetzen. Eine kleine Insel, eine halbe Stunde entfernt«, fügte er auf meinen fragenden Blick hinzu. »Es gibt dort einen Flugplatz, auf dem Sie eine Maschine chartern können.«
Ich überlegte nicht lange. Mir stand wahrlich nicht der Sinn nach einer weiteren endlosen Auto- oder Bahnfahrt. Ich teilte Becker meine Entscheidung mit, und er fuhr wortlos an.
Der Weg war nicht weit, Havillands Villa lag ja praktisch am Strand, und obwohl die Straße ein paar völlig überflüssige Kehren und Windungen machte, brauchten wir kaum zehn Minuten, um den winzigen Hafen von Santa Maria de La Arenia zu erreichen, der eigentlich nur aus einer windschie-fen Hütte und einem wackeligen Steg bestand, an dem nur ein einziges Boot festgemacht war: eine kleine, relativ moderne Yacht, nichts für die offene See, aber sicher und groß genug, den Halbstunden-Trip zu der von Becker genannten Insel zu wagen. Becker bat mich, einen Moment im Wagen zu warten, stieg aus und ging zu der Yacht hinüber. Ich sah, wie er unter Deck verschwand. Kaum zwei Minuten später kam er in Begleitung eines jungen Mannes in ausgewaschenen Jeans und Lederjacke zurück.
Ich stieg aus dem Wagen und ging den beiden entgegen.
Becker stellte seinen Begleiter als Hendrick Crandell vor, den Besitzer des Bootes, und erklärte, daß er bereits alles mit ihm ausgemacht habe. Crandell würde mich übersetzen, noch dazu zu einem Preis, der
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