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Der Sand der Zeit

Titel: Der Sand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Das Ding vor uns war kein Spuk, sondern Realität, so unglaublich es schien. Es war ein Wikingerschiff, ein langgestrecktes, graues Boot mit nur einem Mast und dem berüchtigten Drachenkopf am Bug. Vom Mast und den Aufbauten hingen feuchtes Seegras und Tang, und der Rumpf war über und über mit Muscheln verkrustet, als hätte es jahrhundertelang auf dem Meeresgrund gelegen. Hinter der niedrigen Reling reihten sich Dutzende von runden, rostzerfressenen Schilden, und dicht vor seinem Heck waren noch Fetzen der gestreiften Zeltbahn zu erkennen, die seiner Besatzung Schutz vor Wind und Wetter gegeben hatte.
    Dünne graue Rauchfäden stiegen von seinem Deck auf, und wieder glaubte ich eine Bewegung in den tanzenden Schwaden wahrzunehmen, Umrisse, die immer wieder auseinandertrieben, kurz bevor sie Gestalt annehmen konnten. Es war unheimlich. Es machte mir Angst. Und nicht nur mir.
    Langsam, dem Sog der Strömung folgend, trieb das Wikingerschiff auf unser Boot zu, bis die Rümpfe knirschend gegeneinander stießen.
    Die Erschütterung warf mich um ein Haar von den Füßen, aber sie riß mich auch in die Wirklichkeit zurück. Im letzten Moment klammerte ich mich an der Reling fest. Mein Blick glitt über das Deck des Wikingerschiffes. Es war dick mit Tang und Schlamm bedeckt, nur da und dort lugte ein Stück rostiges Metall aus der Masse. Keine Bewegung. Keine Schatten. Es war bloß ein Streich gewesen, den mir meine überreizten Nerven gespielt hatten, dachte ich erleichtert.
    »Was bedeutet das?« keuchte Becker neben mir. »Wie kommt dieses Schiff hierher? Das …« Seine Stimme versagte.
    Seine Augen waren so weit aufgerissen, daß es aussah, als würden sie jeden Moment aus den Höhlen quellen.
    »Das weiß ich so wenig wie Sie«, murmelte ich, ohne den Blick von dem fremden Schiff zu wenden. Meine Furcht wich allmählich, und statt dessen ergriff eine kaum mehr zu bezwingende Erregung von mir Besitz. Jetzt würde Havilland mir glauben müssen. Wenn wir dieses Schiff zurück-brachten, dann würde er sich eher die Hand abhacken lassen, als mich fortzuschicken.

    Die beiden Schiffe lagen Rumpf an Rumpf im Wasser. Zö-
    gernd hob ich die Hand, berührte einen der rostigen Metallschilde, die hinter der Reling des Wikingerbootes befestigt waren, und beugte mich darüber. Das Langboot war sehr viel größer als unsere Yacht, lag aber deutlich tiefer im Wasser, so daß ich das ganze Deck gut überblicken konnte.
    »Was haben Sie vor?« fragte Crandell, aber ich antwortete gar nicht.
    »Es muß Jahrhunderte auf dem Meeresgrund gelegen haben«, murmelte Becker neben mir. »Das ist … phantastisch.
    Unglaublich!« Er schüttelte ein paarmal den Kopf, wandte den Blick und sah mich an. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, was wir da entdeckt haben?« fragte er. »Das Ding ist mindestens acht- oder neunhundert Jahre alt! Es … es muß ein Teil der Flotte sein, mit der Erickson hierhergekommen ist!«
    Er richtete sich plötzlich auf und sah sich suchend an Deck um. »Ich brauche das Tau dort hinten«, sagte er.
    »Was haben Sie vor?« Crandell rührte sich nicht von der Stelle, aber Becker stieß ihn einfach beiseite, lief hastig zum Heck und kam mit dem Tau in der Hand zurück. »Helfen Sie mir, Craven!« sagte er.
    Unter Crandells verblüfften Blicken knotete er das eine Ende um die Reling der Yacht und warf den Rest auf das Deck des Wikingerschiffes hinunter.
    »Tun sie das nicht«, sagte Crandell. Er sprach sehr leise, aber in seiner Stimme war ein Unterton, der mich aufhorchen ließ.
    Ich sah ihn an. Sein Gesicht war bleich vor Furcht.
    »Sind Sie verrückt, Hendrick?« antwortete Becker aufgeregt. »Ich werde unseren Fund in Schlepp nehmen, oder glauben Sie wirklich, ich lasse das Schiff hier? Das ist eine Sensation!«
    Crandell biß sich nervös auf die Lippen. Sein Blick suchte die wogende Nebelbank und tastete dann unsicher über den Rumpf des Wikingerbootes. »Wahrscheinlich haben Sie recht«, murmelte er. »Aber …«
    »Nichts aber«, unterbrach ihn Becker. »Hier, halten Sie das!« Er drückte dem völlig verblüfften Crandell das Seil in die Hand, stieg mit einer entschlossenen Bewegung auf die Reling hinauf und sprang in das Wikingerschiff hinunter.
    Dann winkte er mir, ihm zu folgen.
    Ich zögerte einen Moment. Irgend etwas sagte mir, daß Crandells Furcht nicht ganz unbegründet war. Aber dann verscheuchte ich diesen Gedanken und kletterte rasch hinter Becker auf das Wikingerschiff hinunter.
    Das morsche Holz

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